Roman 
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Wieder ein von Gruftine selbst geschriebener Roman über Buffy, Angel, Spike und all die anderen. Wer schon die Storys bzw. die Endlosgeschichten gelesen hat, weiß was sie für ein Talent hat. Ich bewundere jedenfalls Meike über ihre Einfälle.
Wer hier meckern will, soll es erst mal besser machen!!
Wer sich die Seiten ausdrucken möchte, dann nur zur eigenen Nutzung. Es ist ohne schriftliche Genehmigung der Autorin nicht erlaubt, den Roman und Teile daraus zu vervielfältigen, systematisch auszuwerten oder auf gedrucktem bzw. elektronisch gespeichertem Weg zu verbreiten.
Anfragen diesbezüglich sind an Die Autorin zu richten. Sie wird über alles weitere entscheiden.
Dann viel Spaß beim Lesen!
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Titel: Hüterin der verlorenen Seelen (Org: Lost Angels: The Journey of Soulhunters)

Autorin: Meike Benner „Shadow-Writer“ or „Dina, the Soulhunter“

Altersfreigabe: Ab 16 (?)

Rechte: frei erfundene Story

Kategorie: Fantasy-Horror-Märchen

Kommentar: Nach den ersten 3von 5 erfolgreichen Buffygeschichten, wo in der letzten die Soulhunterin Dina ihren ersten Auftritt hatte, wollte ich diesem Wesen eine eigene Entstehungsgeschichte geben, da sie sehr mystisch und geheimnisvoll ist. Ähnlichkeiten mit der Vampirjägerin Buffy sind auszuschließen, da sie eher nach ihrer Autorin kommt.

Feedback: E-Mail: meike-benner@web.de ,Fax: 02304/750170 oder Meike Benner, Am Winkelstück 2, 58239 Schwerte, D1: 0170/4853710

 

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Hüterin der verloren Seelen

Die abenteuerliche Reise eines Soulhunters

 

Inhalt: Rabenhorst, im Jahre 1845: In einer Welt, in der die Menschen noch an Magie glaubten, wo es noch Dämonen, Hexen, Trolle und andere Wesen gab, entstand eine Legende über eine besondere Art von Engeln, die dazu auserwählt waren, daß Gleichgewicht zwischen den guten und bösen Mächten aufrecht zu erhalten. Als das lebenslustige, willensstarke Mädchen Mirka, eine Bauerntochter, erkennt, daß ihre Mutter von einer fremden Macht beherrscht wird, spürt sie bald, daß nur sie in der Lage ist, ihre Mutter davon zu befreien. Denn es ist ihr vorherbestimmt, ein Leben als Seelenjägerin zu führen, um die Menschen vor dem Bösen zu bewahren. Das zu begreifen, verändert nicht nur Mirkas Leben....

 

1. Der Ruf

 

Es war noch früh am Morgen. Die Sonne ging gerade auf und hüllte die Felder und Gärten in ein rot-goldenes Licht, als der Hahn die Unverschämtheit besaß, Mirka Kolt aus ihren Träumen zu reißen. Da es Ende Spätsommer wurde und die Ernte gerade eingefahren war, bereitete das Dorf sich auf den Herbst vor. In Rabenhorst herrschte seit Tagen helle Aufregung, denn die Kinder dachten sich wie immer eine Überraschung für ihre Eltern aus, um die Vorbereitungen für das Erntefest zu versüßen. Sie hatten endlich 3 Wochen schulfrei und schon mächtig viele Ideen, was man machen könne.

Sie trafen sich heute an „ihren geheimen Ort im Wald“, wo sie eigens für sich ein Baumhaus in einer uralten, riesigen Buche, geschaffen hatten, um sich zu beraten. Jedes der Kinder in Rabenhorst wurde einbezogen, egal ob reich oder arm. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft, genau wie die Großen und hielten zusammen, wie Pech und Schwefel.

 

Die siebzehnjährige Mirka war die Älteste von 4 Geschwistern und liebte das Leben auf ihrem kleinen Bauernhof mit ihren Aufgaben und den vielen Tieren, von denen sie und ihre Familie natürlich auch ihre „Lieblinge“ hatten. Eine der Lieblinge war der 6jährige Schäferhund „Wolle“, der als Welpe von 9 anderen Hundebabies, Mirka zugesprochen war, als sie sieben Jahre alt wurde. Er hatte ein weißes, weiches Fell und da er immer zottelig aussah, da er viel herumtobte und auch gerne mal in den nahegelegenen Fluß sprang, gab Mirka ihm den Namen „Wolle“. Er hatte kluge, große, dunkelblitzende Augen und paßte stets wachsam auf die Familie Kolt auf.

Wie jeden Morgen, als Mirka sich noch verschlafen in ihrem Bett räkelte, kam er die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufgelaufen, um auf ihr Bett zu springen und sie mit seiner feuchten, rauhen Zunge wachzuküssen. Das laut anhaltende Krähen ließ Mirka stöhnend die Augen aufschlagen. Grummelnd und noch den Schlaf in ihren Knochen, legte sie sich auf die rechte Seite und stülpte sich das Kissen über den Kopf. „Bitte, Gockel Pinpa, noch fünf Minuten...“ nuschelte sie in die Bettdecke und gähnte herzhaft. Jedes Tier hatte auf den Hof einen Namen. Sogar die Mäuse, die im Winter kamen, um die hart erarbeiteten Vorräte anzufressen.

Mirka liebte alle Tiere genauso wie ihre Familie. Sie gehörten einfach zu ihrem Leben und sie behandelte jedes Lebewesen mit Respekt und Liebe, auch wenn sie von den Katzen blutig gekratzt oder den Gänsen gepickt wurde. Selbst die Tiere kamen gern zu ihr, nicht nur, um gefüttert und gepflegt, sondern auch gestreichelt zu werden, wenn sie krank waren oder zum Trost spenden wenn Mirka oder der Rest ihrer Familie, Probleme hatten.

 

Mirka fiel gerade wieder in einen leichten Schlummer, als sie schon das schnelle Hecheln und Tapsen von Wolle wahrnahm. Die hölzerne, stabile Eichentür zu ihrem geräumigen Zimmer knarrte lautstark. Sie hatte schon immer ihr eigenes Zimmer. Ihre drei jüngeren Geschwister dagegen, schliefen im Nebenraum zusammen. Der Schäferhund sprang mit einem Satz auf Mirkas Bett und wedelte freudig mit dem Schwanz. Er winselte und fuhr auch schon mit seiner gefürchteten, nassen Zunge über ihre Oberarme, als Tobias, ihr jüngster Bruder, er ist gerade erst 5 Jahre alt, anfing, lautstark zu quengeln. Das machte er immer, wenn es darum ging, sich zu waschen. Mirka hatte alle Mühe, vor Lachen nicht aus dem Bett zu fallen und den wilden Wolle abzuwehren, als auch schon der strenge Ruf ihre Mutter Christa ertönte: „Mirka Sanje Kolt! Komm raus aus den Federn! Du bist heute mit Melken dran!“

 

Mirka fuhr erschrocken aus dem Bett hoch und setzte sich auf. Ihre rotblonden Haare, die ihr bis zu den Hüften reichten hingen ihr wirr im Gesicht herum. Melken! Das hatte sie völlig vergessen! Sie dachte schon sofort an das Treffen im Buchenwald im Baumhaus und freute sich auf alle und was sie bereden wollten. Und sie konnte auch Malte wieder treffen. Ein 16jähriger Junge aus der Nachbarschaft. Er hatte ganz blondes, glattes Haar und viele Sommersprossen im Gesicht. Und diese blauen Augen. Sie glitzerten in der Sonne, wie Diamanten. Mirka seufzte. Als sie an Malte dachte, klopfte ihr Herz schneller. „Mirka! Bist Du taub oder muß ich Titzia zu Dir schicken?“ Mirka stand endlich auf und antwortete ihrer Mutter sofort: „Nein, Mutter. Ich komme gleich!“ Titzia war eine alte, griesgrämige Graugans, die nicht gut auf Menschen zu sprechen war. Ihr Vater hatte sie vor dem Schlachter bewahrt, als sie auf dem Markt verkauft werden sollte. Trotz liebevoller Haltung mit anderen Artgenossen, genug Futter und Freilaufen, gelang es nur Mirkas Mutter, sie zu zähmen. Sie hatte wohl als Junges schlechte Erfahrungen mit den Menschen gemacht.

Mirka hatte ein weißes Leinennachthemd an, was ihr viel zu groß war. Es gehörte Matthias, ihrem Vater. Dieser war vor 3 Jahren an einer bösen Krebsgeschwulst in der Lunge gestorben. Barfuß und noch nicht gewaschen, lief sie aus ihrem Zimmer, die Treppe hinunter. Draußen im Hof waren die Hühner schon von einem der vier Rackern herausgelassen worden. Greta, die fette Milchkuh gab ein lautes Muhen von sich. Die Arbeit mußte getan werden. So war das nun mal. Jeden Tag. Arbeiten, Essen, schlafen.

 

Sie hatten insgesamt fünf Kühe, 3 weibliche und zwei Bullen. Nachwuchs gab es noch nicht. Nach dem Warum fragte sich keiner in der Familie. Dann gab es da noch Rosalie, die schönste Stute der Welt, wie Mirka fand. Sie half beim Sähen des Feldes, zog den Fuhrwagen und den Pflug. Die Familie Kolt baute den besten Mais in der Gegend an, wovon sie hauptsächlich lebten. Von den Milcherzeugnissen der Kühe und den 3 Ziegen und einem selbst angelegten Gemüsebeet konnten sie sich auch etwas gönnen, wenn es die Saison zuließ. Rosalie war ein 3 jähriges, weiß-grau-geschecktes Vollblut, mit einer langen Mähne. Sie war kräftig und hatte treue Augen. Auch ein Geschenk der Eltern für Mirka, als sie 12 geworden war.

Sie hatten natürlich auch Katzen, 2 aufgelesene Streuner, die sich in der Scheune versteckten, als einmal ein Unwetter aufgekommen war. Mirka reckte sich vor der Haustür und hörte ihren kleinen Bruder, den sie liebevoll Tobi nannte, schon fluchen. „Wie ich das hasse. Mirka, hilf mir!“ Seine große Schwester ging lässig an ihm vorbei und grinste ihn an, als sie sah, wie unbeholfen er sich mit dem schweren Hebel am Wassertrog abmühte. „Du bekommst ihn schon herunter! Du mußt nur kräftig drücken! Damit Du stark wirst! Tobi, ich muß die Kühe melken. Wasch Dich doch im Trog. Und denk bitte an Lotte. Sie hat Eier gelegt.“ Sagte sie so höflich sie konnte, weil sie wußte, wie schnell Tobi aus der Haut fahren konnte.

„Jaja. Lotte hier, Lotte da. Kann´s nich´ mehr hören!“ maulte Tobi. Der Kleine schaffte es, den Hebel so herunter zu drücken, das eine schmale Wasserfontäne herausgeschossen kam. Ohne Murren hielt er seinen braunen Lockenkopf darunter und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Dann schüttelte er sich trocken und stampfe mit großen Schritten, so naß wie er war, in den Hühnerstall. Lotte war die älteste Henne und legte immer noch fleißig Eier. Erst gestern waren es Drei an der Zahl. Tobi mochte es besonders, wenn seine Schwester ihm davon Rührei briet. Mit vielen Zwiebeln und gutem Schinken.

 

Mirka fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und warf sie elegant nach hinten. Die feinen, glänzenden weichen Locken, fielen sanft über ihren Rücken. Sie trug sie meist offen oder hochgesteckt, wenn es heiß wurde. Ihre Haut war zartbraun und ihre Wangen von einem leuchtenden Rot. Sie reckte sich noch einmal kurz kräftig, stemmte sich auf den Zehen in die Höhe und streckte die Arme in die Luft, bevor sie in den Stall ging, um die Kühe zu melken. Hinter ihr hörte sie schon ihre anderen Geschwister, die 13jährige Rabea und den 9jährigen Janus streiten. Sie zankten sich darum, wer heute mit Unkrautzupfen dran war. Diese Arbeit haßten sie alle. Doch der Garten sah seit Wochen unmöglich aus, kaum einer konnte sich darum kümmern, da die Ernte Vorrang hatte. Denn auf einem Bauernhof mußte nun einmal jeder mit anpacken. Christa verdonnerte meist die Jüngeren dazu, da sie noch nicht so selbständig entscheiden konnten. Seit Matthias Tod hielten sie noch mehr zusammen und bemühten sich, seinen Hof aufrecht zu erhalten.

 

Als Mirka den Stall betrat, blendeten sie einzelne Sonnenstrahlen, die durch die offenen Stellen des Stalls drangen. Der Stall war aus einfachen Holzbrettern zusammengenagelt. Lediglich das Dach war aus robusten, roten Steinziegeln. Die fünf Tiere standen in einer Reihe, wiederkäuend vor gut verteiltem Heu. Es roch streng danach. Zufrieden muhten oder schmatzten vor sich hin. Sie klopfte der alten Greta ein paarmal auf den Hintern. Das war Mirkas Art, der Kuh „Guten Morgen“ zu sagen. Sie krempelte die Ärmel hoch, nahm sich einen Schemel, setzte sich vor die Kuh, die von dem Klaps unberührt blieb und weiter kaute und begann, sich an dem großen, vollem Euter zu vergnügen. Der Eimer stand schon bereit. Das Melken der zwei Kühe beanspruchte Mirkas Arme sehr. Sie war durch die Arbeit sehr stark und auch gut gebaut. Sie wurde jetzt langsam eine Frau und ihre weiblichen Rundungen kamen schon gut zur Geltung. Ihre kleinen, festen Brüste zeichneten sich schon gut von ihren Kleidern ab.

Die Melkerei dauerte eineinhalb Stunden für 4 Liter je Kuh. Mirkas Magen brummte. Sie freute sich schon auf den reichlich gedeckten Frühstückstisch. Und auf Malte. Fröhlich begann sie, ein Lied zu pfeifen und dabei im Takt des Liedes an Gretas Euter zu zupfen..

 

Während dessen kümmerte sich Christa um das Frühstück. Sie war eine gut genährte, 49ährige Bäuerin. Ihre beträchtliche Oberweite und ihre stämmigen, kräftigen Arme ließ so manchen gestandenen Mann im Dorf schaudern, seit sie Witwe war.  Sie hatte für jeden ein freundliches, offenes Wort und konnte wunderbar laut lachen. Nur seit Tagen war davon keine Rede.

 

Ihr ging es seit einer Woche gar nicht gut. Sie hatte schlechte Träume von Trollen, die sie holen wollten oder Tobi stahlen. Sie sah Mirka immer verschwommen vor sich.. Eine merkwürdige, helle Aura umgab ihren Körper. Was hatte das nur zu bedeuten? Und als sie nach ihr greifen, sie zu sich holen wollte, entfernte sich ihre Tochter von ihr, ja, sie lief regelrecht vor ihrer eigenen Mutter davon. Als wäre sie auf der Flucht. Christa haßte diese stinkenden Trolle. Sie kamen meist, wenn der Winter anfing und stahlen die Ziegen, um sie zu fressen. Manchmal halfen ihr die Elfen mit den Pflanzen, sie hatte ein wundervolles Blumenbeet und einen kleinen Kräutergarten angelegt. Doch seit Monaten ließ sich weder die Elfenschar noch das Trollpack blicken. Die Kolts hatten sich daran gewöhnt, von Zeit zu Zeit Besuch von eigenartigen Wesen zu bekommen. Wie jeder im Dorf. Diese Wesen waren im Grunde harmlos und nur dazu da, die Kinder zu erschrecken oder auch zu entzücken. Es gab im weiten Umfeld auch weiße Hexen oder den dorfbekannten, uralten Zauberer  Magnus Gurfund. Es hieß, seinen Bart konnte er um sich herumwickeln. Er wäre schon über 100. Denn Zauberer und Hexen sind ja unsterblich. Das weiß jedes Kind. Wenn es Probleme mit Trollen, Wichteln, Nymphen oder bösen Feen gab, konnte man sie rufen lassen. Doch auf diesen Beistand konnte Christa gut verzichten. Solange ihre eigene Mutter noch lebte. Die alte Martha war jetzt schon bald 98 und hatte immer noch ein loses Mundwerk. Sie verstand etwas von weißer Magie. Mirka war ihre Lieblingsenkelin. Die beiden hatten seit Mirkas Geburt ein Geheimnis, daß nur Martha kannte. Wenn Mirka nächstes Jahr volljährig würde, erfuhr auch Christa endlich, was für ein Geheimnis ihre Mutter bewahrte, so daß es noch nicht einmal ihr eigenes Kind erfahren durfte. Oft dachte sie an diese Merkwürdigkeit, doch das Halten des Hofes lenkte sie von diesen Sorgen ab. Als Matthias noch lebte, konnte sie nicht verstehen, warum er Martha in Schutz nahm, wenn es um die Erstgeborene ging. Seit ihrer Geburt trug sie auf dem rechten Oberarm ein Geburtsmal, das wie ein Halbmond aussah. Als Martha es entdeckte, bat sie Christa, es mit einem Armreif zu verstecken und es niemandem zu zeigen, bis sie achtzehn war. Erst dann würde sie, wenn der Herrgott sie bis dahin nicht zu sich rief, die Bedeutung des Mals aufdecken und das Geheime an ihrer Enkelin offenbaren.

Als die Familie größer wurde und der Hof langsam Gestalt annahm, hielt sich Christa aus Liebe zu Martha daran, Mirkas Mal mit einem silbernen Armreif, der eigens für sie vom besten Schmied im Dorf angefertigt worden war, zu bedecken. Als es nicht mehr paßte, fertigte sie selbst kunstvollen Schmuck an, der dafür sorgte, ihre Tochter vor neugierigen Blicken zu schützen. Mirka selbst verstand natürlich nicht, was daran besonders war, ein Mal zu verstecken. Doch das Gerede der Leute im Dorf und das Gespött der Kinder machten sie mit der Zeit auch unglücklich und darum fand sie sich damit ab, etwas aus der Rolle zu fallen. Doch sie führte, soweit es möglich war, ein normales Leben und dachte meist nicht an ihre „Besonderheit.“

Es war kurz vor 11 Uhr, als der Garten umgepflügt, die Eier eingesammelt, die Kühe gemolken und die Ställe gesäubert waren. Die Kinder leisteten ganze Arbeit. Und sie taten es gern, denn sie wußten, daß ihre Mutter stolz auf sie war. Natürlich gab es auch mal Meinungsverschiedenheiten, doch das ging vorbei. Christa Lena Kolt trat aus der Stube und rief die Kinder zu sich. Wolle saß wie ein Wachhund neben ihr auf alle Viere. Er wedelte mit dem Schwanz, bellte zweimal kurz und gähnte herzhaft. „Komm, Wolle, Du willst sicher auch einen Knochen?“ Sprach die Bäuerin den Hund an.

Das Tier sah Christa an und ging aufgeregt neben ihr her, er sabberte. Christa nahm eine abgenagte Hühnerkeule und warf sie in die Nähe des Kohle-Ofens, wo Wolle seinen Sitzplatz hatte. Mit ein paar Schritten war der Hund bei seinem Knochen. Er umfaßte ihn mit den Vorderpfoten und nagte daran.

Die vier Kinder, allen voran Mirka kamen ins Haus gelaufen. „Greta und Bella haben heute 2 Körbe Milch gegeben.“ Sagte Mirka stolz und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie stellte die 2 vollen, noch warmen Holzkannen auf die kleine Anrichte neben der Spüle. Mirka setzte sich mit Rabea und Janus an den kleinen Tisch vor dem Fenster. Es gab selbstgebackenes Brot, Käse, Schinken und eingekochte Erdbeermarmelade. „Und, wie war das Unkrautzupfen, ihr zwei Streithammel? Ist auch alles ordentlich sauber?“ Janus und Rabea schauten sich an und grinsten. Dann sahen sie zu ihrer Mutter und nickten. „Habt ihr alle eure Hände gewaschen?“ fragte sie, als jeder nach dem Brot greifen wollte. Tobi setzte sich auf Christas Schoß. Er genoß immer noch den Vorzug der Fütterung. Obwohl er sich auch schon gut selbst versorgen konnte. Artig zeigten die Vier ihre sauberen Finger. „Dann guten Appetit.“ Kaum hatte es die Bäuerin ausgesprochen, stürzten sich die Kinder auf ihr Frühstück. Lächelnd goß Christa sich Tee auf und blickte auf ihre Kinder. Ihre Sorgen waren für  einige Augenblicke vergessen.

 

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Nachdem die Familie in aller Ruhe gefrühstückt hatte, gingen die drei Geschwister, Mirka, Rabea und Janus in ihre Zimmer, um sich zu waschen und anzukleiden. Tobias half seiner Mutter beim Aufräumen und Spülen in der Küche. Er gab Wolle zu trinken und kümmerte sich um die Katzen in der Scheune. Die Sonne erhellte das Haus der Kolts. Es sah aus, als würde es ein schöner Tag werden. Besonders heute abend, wenn das Fest begann und die Kinder wieder etwas ausheckten für die Erwachsenen. Als es auf den Nachmittag zuging, hatte Mirka sich für das Treffen mit den Dorfkindern angezogen. Ihre Lieblingsfarbe war rot und auch ihre Mutter kam jedes Mal aus dem Staunen nicht mehr heraus, wenn sie ihre Tochter vor sich sah. Sie wurde eine junge Dame. Und von mal zu mal hübscher. Mirka trug ein einfaches Baumwollkleid, das in der Mitte von einer weißen Kordel zusammengehalten wurde. Die Ärmel waren lang und die Rocklänge reichte ihr bis zu den Knien. Ihr Dekolleté war mit einem Kreuzanhänger, der golden glänzte, geschmückt. Ihre lange Mähne hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten.

Fröhlich kam sie zu Christa in die Küche gerannt, noch barfuß. „Na, Mama, wie gefalle ich Dir?“ fragte sie neugierig. Ihre Mutter drehte um. Sie war gerade damit beschäftigt, die letzten Teller abzutrocknen: „Du bist eine Rose in der Wildnis, meine Süße. Ich bin stolz auf Dich und...“ sie brach ab, denn auf einmal ging ein stechender Schmerz durch ihren Kopf. Sie ließ den Teller, den sie in der Hand hatte fallen, der in tausend Stücke auf dem Boden zerfiel. Mit beiden Händen faßte sie sich an den Kopf. Der Schmerz war unerträglich. Mirkas fröhliche Miene verwandelte sich in ein besorgtes Gesicht: „Mutter! Was ist los?“ Sie stützte Christa an den Hüften und führte sie zum Stuhl. Die sich vor Schmerzen krümmende Frau biß die Zähne zusammen: „Es ist nur ein...Anfall...geht gleich...wieder weg. Hol mir...ein Glas Wasser, Mirka. Bitte!“ Kaum hatte Christa es ausgesprochen, lief ihre Tochter auch schon aus dem Zimmer.

Hastig nahm sie mit flinken Händen die große Schöpfkelle aus dem Trog in beide Hände, holte Wasser heraus und füllte es bis zum Rand. Vorsichtig lief sie ins Haus zurück und schüttete das frische Wasser in ein kleines Glas. Mit klopfendem Herzen reichte sie es ihrer Mutter. „Seit wann hast Du denn Kopfweh? Und Du siehst auch schon seit längerer Zeit blaß aus. Hast Du nicht gut geschlafen?“ Mirkas Mutter nahm das Glas in beide Hände. Diese zitterten sichtbar schwer. Mit langsamen, großen Schlucken leerte sie das Glas. Sie drehte sich nicht zu Mirka um. Sie schämte sich, da sich ihre Tochter solche Sorgen machte und sie ihr nichts von den ihren erzählte: „Ach, Kind. Ich habe seit einigen Tagen Alpträume. Ich weiß nicht, warum. Ich habe beinahe 4 Tage fast kein Auge zugemacht. Ich....dachte es wäre nichts Schlimmes, es würde vorbeigehen. Jetzt bekomme ich die Rechnung. Mach Dir keine Gedanken, Mirka. Es geht vorbei.“

 

Rabea war in die Küche gekommen. Auch sie war hübsch angezogen. Sie hatte eine blaue Hose von ihrem Vater an und darüber ein weites, weißes Hemd. Ihre braunen, kurzen Locken klebten noch naß an ihrem Gesicht: „Mirka! Mutter! Was ist denn hier passiert?“ Bevor Christa Kolt antworten konnte, erzählte Mirka ihrer jüngeren Schwester, was geschehen war. Rabea sah die Scherben auf dem Boden und machte sich sofort daran, den entstandenen Schaden wegzufegen. Mirka hatte sich zu ihrer Mutter gesetzt und wollte Näheres über die Träume wissen. Doch Christa wich aus: „Nichts von Bedeutung. Ich kann Träume nicht deuten, meine Liebe. Ich werde mich ein wenig ausruhen und mich hinlegen. Du kannst ja mit Deinen Geschwistern zum Baumhaus gehen, wenn ihr eure Zimmer aufgeräumt habt. Nimm Rosalie und den Bollerwagen für Tobi mit. Und seit bitte vor dem Dunkelwerden wieder zurück. Bis dahin geht es mir sicher wieder besser. Dann gehen wir das Herbstfest feiern. Einverstanden?“ Mirkas Augen leuchteten. Sofort kam ihr Malte wieder in den Sinn. Doch immer noch besorgt, hakte sie nach: „Soll ich nicht zu Großmutter Martha reiten? Sie spürt doch meist, wenn etwas bei uns nicht stimmt. Sie wird sicher wissen, was die Träume bedeuten, wenn Du mir sie erzählst. Bitte, Mutter. Ich habe Angst um Dich!“ Christa machte verwundert große Augen. Sie begann zu weinen. Stumm umarmten sich die beiden. „Das brauchst Du nicht, Liebes. Ich...erzähl Dir mehr, wenn ich mehr erkenne...laß Martha daraus. Sie...hat schon genug mit sich selbst zu tun. Sie ist alt und wirr, das weißt Du doch. Sie redet viel und davon ist die Hälfte erfunden. Auch wenn sie etwas von Magie versteht, heißt das nicht, daß sie gegen alles ein Kraut hat. Und jetzt lauf.“ Mirka strich ihrer Mutter über die schwarz-grauen, schulterlangen Haare. Sie gab ihr einen Kuß auf die Wange und holte ihre Geschwister, um ihnen von Mutters Wunsch zu berichten. Tobi und Janus waren schon von Rabea ins Bild gesetzt worden und hatten ebenso sorgenvolle Mienen, wie Mirka. Doch als sie hörten, daß sie sich mit den Dorfkindern schon früher treffen konnten, hellten sich ihre Gesichter auf.

Schnell machten sich alle daran, ihre Betten herzurichten, das Spielzeug wegzuräumen und Staub zu wischen. Sie putzten sogar freiwillig die Fenster, was jedem der Kinder, auch Mirka, ein Greuel war.

Christa ging langsam die Treppe hinauf, zum Dachstuhl, wo sie sich ihr Reich hergerichtet hatte. Das Bett stand an der Luke, ein Guckloch nach draußen. Man konnte es öffnen. Manchmal ließen sich Vögel, Eulen oder auch Eichhörnchen darauf nieder. Ein Tisch und ein Stuhl und viele Regale mit Büchern und Zeichnungen waren darin. Christas Glieder begannen, schwer zu werden und auch zu schmerzen. Was war bloß los? Ihr Magen wollte rebellieren. Wenn sie schlief, würde es besser werden. Doch was war mit den bösen Träumen? Kamen die dann auch wieder? Christa zog sich ganz aus und hüllte sich in die frischen Leinendecken. Sie war in ein paar Minuten eingeschlafen.

Wolle war ihr unbemerkt gefolgt, obwohl sie immer darauf achtete, daß der Hund sich in den Hof legte, um Laut zu geben, wenn jemand kam. Doch Wolles Beschützerinstinkt wich seinen Pflichten. Auch er fühlte, daß mit Christa irgend etwas nicht zu stimmen schien. Er roch Christas Angst. Winselnd legte er sich auf alle Viere vor ihrem Bett nieder, wedelte mit dem Schwanz ein paar Mal und schloß die Augen. Seine Ohren waren jedoch wachsam aufgerichtet.

 

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Mirkas Herz klopfte vor Freude schneller, sie bekam auffallend rote Wangen, als sie sich für den Waldritt vorbereitete. An ihrer Kordel befestigte sie einen kleinen Beutel, wo eine Mischung aus Mehl und einem roten Pulver gemischt lag, die Zusammensetzung war Mirka fremd. Sie bekam es von ihrer Mutter. Und diese hatte es von Martha. Da sie es als Schutz vor Fremden einsetzen konnte, auch vor anderen, bösen Wesen, war sie sich der Wirkung eindeutig bewußt.

Sie und ihre Geschwister hatten einmal die unheilvolle Begegnung mit einem Bergtroll. Diese Sorte war besonders wild und auch ganz schön gefährlich. Er hatte sich bis in den Garten an einem Wintermorgen vorgewagt. Mirka war gerade im Begriff, mit Tobi auf dem Arm, in den Hühnerstall zu gehen. Da hörte sie hinter sich ein unmenschliches Geknurre und Gefauche. Sie blieb wie angewurzelt stehen und hielt ihrem kleinen Bruder den Mund zu, damit er nicht aufschrie. Ein ekelerregender Geruch von faulen Eiern stieg ihr in die Nase. Sie mußte sich selbst innerlich beruhigen, um nicht wegzulaufen. Langsam griff sie an ihren Talisman um den Hals, wo eben jener Beutel mit dem geheimnisvollen Inhalt befestigt war. Ihre Hände zitterten, doch sie schaffte es. Langsam holte sie eine Handvoll heraus. Das Knurren kam näher. Schlurfende Schritte nahmen die Kinder hinter sich wahr. Er war dicht hinter ihnen. Mirka kniff die Augen zusammen und ließ langsam die Hand von Tobis Mund, der sich zusammenreißen mußte, nicht zu schreien. Doch auch er hatte gelernt, sich gegen diese unliebsamen Gäste zu wehren. Sie verständigten sich mit Blicken und Handzeichen. Es mußte schnell gehen, bevor der Troll sie riechen konnte.

 

Mirka drückte auch ihm etwas von dem Pulver in seine kleinen Hände. In einer halben Drehung nach hinten schleuderten die beiden tapferen Kinder das Pulver dem Troll genau ins Gesicht. Dann nahm Tobis große Schwester die Beine in die Hand und lief mit ihm wie ein geölter Blitz in die Scheune. Sie drehte sich dabei nicht um. Das war der schnellste und sicherste Weg, um sich zu retten. Das Gefluche und wütende Aufstampfen des Bergtrolls, der sich wie wild die Augen rieb, machte den beiden Kindern Angst. Denn er konnte somit noch mehr von seiner Art dazu bringen, den Hof anzugreifen.

Nur selten erdreisteten es sich diese Wesen, allein zu kommen. Wenn einer bei den Menschen war, waren seine Brüder nicht weit. Und tatsächlich: Mirka und Tobi, die sich auf den Heuboden in der Scheune versteckt hatten, beobachteten, wie sich zwei Trolle daran machten, ihren angeschlagenen Kumpan vom Hof zu ziehen. Sie packten ihn unbeholfen an den Armen und zerrten ihn mit sich. Auch sie fluchten laut vor sich hin und sprachen einen Dialekt, den Mirka nicht verstand. Kaum einer dieser Wesen verstand die menschliche Sprache. Es sei denn, sie wurden gefangen genommen oder lebten nah bei den Menschen, wenn es etwas zu holen gab. Dann, nach einer ganzen Weile kamen erneut zwei Trolle, noch häßlicher und stinkender, als die anderen. Sie waren auch größer. Es schienen so etwas wie Anführer zu sein, denn sie trugen Kleider. Rote, zerschlissene Gewänder, die ihren Oberkörper bedeckten. Und sie hatte auch Sperre in der Hand. Und Steinschleudern. Normalerweise gingen Bergtrolle einem nur bis zu den Hüften oder auch bis zu den Knien. Sie gingen oft auf ihren Händen. Wie Affen. Und sie waren unbeschreiblich häßlich. Schwarze, lange, strähnige Haare hingen ihnen über ihr pickeliges, verwarztes, geschwollenes Gesicht. Die Haut sah fett und lederig aus. Sie schimmerte grün oder bräunlich. Aus ihren großen, schiefen Nasen triefte der Schleim und sie zogen auch dementsprechende Spuren hinter sich her. Ihre klauenartigen Hände waren dünn und lang. Die schwarzen, scharfen Krallen spitz zulaufend. Ihre fürchterlich abstehenden, schiefen, gelben Zähne ragten aus ihrem großen Maul. Die zwei Trolle schnupperten nach Vieh. Sie hielten ihre Köpfe in alle Himmelsrichtungen und verhielten sich so gut es ging, ruhig. Christa war im Haus gewesen und beobachtete alles mit aufgerissenen Augen und starr vor Schreck vom Küchenfenster aus. Sie wagte es nicht, sich zu rühren. Weil sie wußte, sie konnte sich auf Mirka verlassen. Die Trolle durchsuchten den Kuhstall und fanden die Ziegen. Die Kinder weinten, als sie das Geschrei der Ziegen hörten und das Fluchen der Trolle, als die Tiere sie traten und sich wehrten.

Doch die Kinder und Christa wußten: Lieber ein paar Tiere opfern, als das Leben verlieren oder zu ihren Sklaven werden. Oder auch zu Futter. Es kam auch vor, daß Trolle Kinder stahlen, um sie mit Essen vollzustopfen und sie dann zu fressen. Doch das geschah nicht mehr oft, denn jeder hatte so seine eigenen Methoden, mit diesen Wesen umzugehen.

 

Mirka sah noch einmal prüfend in den Spiegel und lächelte sich zu. Sie steckte noch ein kleines Messer in ihre Brusttasche. So fühlte sie sich sicher. Sie dachte wieder an Malte. Sie zog sich hellbraune Sandalen aus Leder an, die man an den Fersen zusammenband. Es klopfte an der Tür: „Dauert es noch lange? Janus ist schon ganz ungeduldig. Und Tobi fängt Streit an. Komm endlich, dann kannst Du auch Deinen Malte sehen!“ Sagte Rabea neckisch. Mirka verdrehte die Augen. Mit einem letzten, prüfenden Blick in den Spiegel lief sie aus dem Zimmer.

Janus hatte den Bollerwagen aus dem Geräteschuppen geholt. Es war ein einfaches Fortbewegungs- und Transportmittel. Als Tobi noch ein Baby war, fuhr Christa ihn immer darin spazieren. Nun war es Mirka, die das übernahm. Doch da Mirka Rosalie mitnehmen durfte, übernahm ihre Schwester diese Aufgabe. Janus konnte mit Mirka auf Rosalie reiten. Die Stute war kräftig und hatte auch nichts dagegen. Sie akzeptierte sogar manchmal, wenn Christa ins Dorf mit ihr ritt. Mirkas Vater konnte als Einziger nicht auf ihr reiten. Ihr früherer Besitzer hatte sie geschlagen. Und seitdem war Rosalie auf Männer nicht gut zu sprechen, geschweige denn überhaupt Erwachsene.

Rabea hatte die Stute aus dem Stall geholt. Mirka staunte nicht schlecht. Sie war sogar gesattelt. Rabea war in diesen Dingen ungeschickt. Sie hatte mit Hausarbeit nicht so viel am Hut. Doch da sie nun einmal mit anpacken mußte, blieb ihr nichts anderes übrig, als auch die unangenehmen Dinge zu lernen: „Rabea! Das ist ja toll! Du bist lieb, Schwester, danke!“ Freute sich Mirka, streichelte Rabea über ihre Locken. Diese grinste verlegen und schaute zu Boden: „Ich kenne einen Jungen aus dem Dorf. Der hat es mir gezeigt.“ Sagte sie, ohne aufzublicken. Ach! Rabea fing also auch schon an, sich mit Jungs anzufreunden. Wenn das Mutter wußte! Dachte Mirka. Kopfschüttelnd prüfte sie mit ein paar Handgriffen, ob der Sattel festsaß und der Halfter richtig befestigt war. „Alles in Ordnung. Wir können!“ Mit einem letzten, sorgenvollen Blick auf den Dachstuhl zogen die 4 Kinder in Richtung Wald.

 

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Christa träumte. Sie warf sich von einer Seite auf die andere. Sie schwitze, ihre Haare klebten ihr am Kopf. Die Bettlaken waren durcheinandergewühlt. Ihr Atem ging schwer. Ab und zu schüttelte sie den Kopf und wedelte mit den Armen von sich weg, als wollte sie etwas oder jemanden abwehren: „Nein, laß mich....nein, bitte, nicht...ich habe nichts getan...neeeeein!!!“ Ihre leisen Sätze gingen ins Schreien hinüber.

Als Christa Lena Kolt vor Schreck aus ihrem Bett hochfuhr, sah sie Wolle vor sich, der auf ihr hockte und sie zähnefletschend anknurrte. Er bellte aggressiv. Als die beiden sich in die Augen sahen und Christa versuchte, den Schäferhund zu streicheln, schnappte er nach ihr!. „Verschwinde, du verdammter Köter!“ schrie sie das Tier an. Mit angelegten Ohren und eingeklemmten Schwanz sprang Wolle von ihrem Bett und winselte. Ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen, lief er aus ihrem Zimmer. Christa rieb sich die Augen und strich sich übers Gesicht. Ihr Herz raste, ihr war schwindelig. Kraftlos ließ sie sich in die Kissen sinken. Ihr Kopf hämmerte vor Schmerzen.  Christa wunderte sich über ihre Wut. Sie sah an die Decke. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter: „Oh, Mutter! Was ist nur los mit mir? Ihr verdammten Träume! Laßt mich in Ruhe!“ rief sie in die Stille.

 

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Gerade als Christa vom Bett hochfuhr und nach Martha rief, spürte die Angesprochene den rasenden Schmerz in ihrer Brust! Martha Luisa Kolt lebte am Ende des Runen-Waldes ganz allein in einer einfachen Hütte. Sie erntete gerade frische Radieschen in ihrem kleinen Garten, als sie den Stich in ihrem Herzen spürte. Sie saß in der Hocke. Sie ließ die Radieschen in den Händen auf den Boden fallen und faßte sich mit einem Aufschrei an die Brust: „Christa! Was....was ist, was hast Du? Oh, nein....nicht mein Kind, bitte! Ihr Götter! Warum nur? Verdammt!“ fluchte sie heiser. Sie war so geschwächt von dem Schmerz, das sie nach hinten kippte und auf dem Rücken landete. Ihr liefen die Tränen über die Wangen. Sie schüttelte stumm den Kopf: „Warum jetzt schon? Mirka ist noch nicht soweit. Sie weiß nicht, was....“ sprach sie leise, als sie von einer Stimme erschreckt wurde: „Martha! Was ist passiert? Alles in Ordnung? Brauchst Du Hilfe?“ Es war Marek, der Postbote. Er stammt aus Rumänien und flüchtete nach Deutschland, da er die Grausamkeiten des zur Zeit herrschenden Krieges nicht mehr ertrug. Er trat zaghaft näher. In seiner linken Hand hatte er einen Brief. Er war dünn und klein. Seine Kleidung war schlicht. Einfache, graue Hosen und ein passendes Hemd. Er hatte stechende, braune Augen. Sein leicht ergrautes, schwarzes Haar war vom Wind zerzaust und hing ihm ins Gesicht. „Marek...Du hier? Was gibt...es, ich...es geht schon wieder....hilf mir auf. Bitte.“ stöhnte Martha. Sie begann, am ganzen Körper zu schwitzen. Und ihre Hände zitterten. Marek lief zu ihr und stützte sie an den Armen. „Hast Du etwas für mich? Ich habe lange nichts mehr gelesen.“ Fragte die alte Dame, schon wieder etwas gefaßter. Marek sah ihr in die Augen: „Geht es Dir auch wirklich wieder besser? Soll ich nicht nach einem Arzt schicken? Hier ist ein Telegramm aus Lüneburg. Von Vater Braun.“ Er reichte es ihr. Martha wischte sich über die Stirn: „Übertreib es nicht! Ich brauche keinen Kurpfuscher! Mir geht es gut! Danke! Paß auf Dich auf, Marek! Einen schönen Tag!“ sagte Martha bestimmt und laut. Sie lächelte kurz. Ihre blauen Augen blitzten ihn an. Sie zupfte an ihren weiß-grauen Haaren, die ihr im Gesicht hingen. Sie hatte wunderschönes, weiches Haar, das ihr bis auf die Hüfte fiel. „Wie immer bist Du störrisch wie ein Esel. Wie Du meinst. Aber denke ja nicht, das jemand für Dich da ist, wenn Du mal wirklich Hilfe brauchst!“ verabschiedete sich Marek, mit dem Rücken zu ihr. Er schüttelte den Kopf. Diese eigensinnige Verrückte, dachte er. „Ich bin nicht verrückt! Merk Dir das!“ Marek schluckte. Das sie Gedanken lesen konnte, vergaß er immer wieder. Er blieb stehen. Als er zu einer Entschuldigung ansetzen wollte, war Martha schon im Haus verschwunden: „Verschwinde endlich, sonst schicke ich Dir eine Schimpfkanone hinterher!“ Marek drehte sich schleunigst um und rannte zu seiner Fuhrkutsche. Mit der Schimpfkanone waren Dronen gemeint. Gefährliche Arbeiterbienen, die Martha persönlich abgerichtet hatte, wenn Gefahr drohte. Sie hielt sich eine große Bienen-Wabe, weil sie Honig über alles liebte. Da es nicht ungefährlich war, allein im Wald zu leben, hatte sie sich allerlei Getier zugelegt, die sie warnen, wenn etwas oder jemand Fremdes, sie bedroht.

Eine braun-weiß-gescheckte Eule saß auf einem kleinen, abgehackten Baumstamm in ihrem Haus. Sie schrie kurz auf und trampelte mit ihren Klauen nervös auf der Stelle. Ein pechschwarzer Rabe hockte auf einer Tanne in Mareks Nähe. Er flog über ihn hinweg und kreischte drohend. Marek bekam es mit der Angst zu tun. Sein Gaul wieherte ängstlich. Ohne hinter sich zu blicken fuhr er los, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her.

 

Martha setzte sich an ihren hölzernen Tisch, nahm einen großen Schluck ihres Kräutertees und faltete das Telegramm auseinander. Ihr Herz begann schneller zu klopfen, als sie die Nachricht las: „ Liebste Martha, bin auf dem Weg nach Hause. Habe viel über Eure Bestimmung erfahren. Suche Dich und Mirka getrennt auf. Bis bald, Martin.“ Martha mußte schlucken, als sie diese Zeilen las. Vater Martin war ein Benidiktiner-Mönch, der auf einem Seminar in Lüneburg etwas über alte Rituale und Kulte des alten Testaments in Erfahrung bringen wollte. Auf Marthas Bitte hin. Martin war seit Mirkas Geburt ständiger Begleiter der Familie Kolt, denn als Christa mit Mirka schwanger war, wußte ihre Mutter, daß es mit Mirka etwas Besonderes auf sich hatte. Esmeralda, die alte Eule, gab einen leisen Ton von sich, sie fiepte wie eine Maus, der man auf den Schwanz getreten hatte: „Ja, mein Mädchen. Du hast recht. Es ist Zeit. Arme Christa, mein ahnungsloses Kind. Wir müssen uns auf dem Weg machen.“ Sie ließ den Brief in die Seitentasche ihrer Hose gleiten und sah aus dem Fenster. Es wurde langsam dunkel. Mirka würde sich im Wald mit den Kindern treffen. Christa war allein. Soll ich eingreifen? Fragte die alte Frau sich. Soll Christa die Wahrheit über mich und Mirka erfahren? Ihr wird es immer schlechter gehen. Die böse Saat, ging es Martha durch den Kopf, ist gelegt. Mein unseliges Kind. Was soll ich nur tun? Entschlossen, zu handeln, packte die alte Dame ein paar Sachen zusammen. Ein großes, dick-gebundenes Buch mit seltsamen Zeichen. Es war in braunen, zerschlissenem Leder gebunden und die Seiten waren schon vergilbt. Sie setzte sich einen alten, weiten Strohhut auf, band ihre Haare zu einem Zopf zusammen und zog sich Sandalen an. .Als nächstes ging sie in den Stall hinter ihrer Hütte, sattelte „Einar“, einen edlen, 5jährigen, schwarzen Hannoveraner und machte sich auf dem Weg zu ihrer Tochter. Es würde ein harter Kampf werden. Das fühlte sie in den Knochen, wie den Schmerz in ihrer Brust, der sie daran erinnerte, daß Christa in Gefahr war. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Sie gab Einar die Sporen. Ihre Gedanken waren auch bei Mirka. Was würde nur alles noch mit ihrer Familie geschehen? Sie dachte an Martin. Hoffentlich hatte er gute Neuigkeiten.

 

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In dem Benediktinerkloster „Haus des Friedens“, wie der Erbauer des Klosters es nannte, ein alter, streng katholischer Abt, der bei einer Complet einfach zusammengebrochen war. Eine Complet war ein erfundener Gebetsgesang der Mönche und dauerte eine halbe Stunde. Sie sammelten sich in der Kapelle und sangen für Gäste. Ihre wunderschönen Stimmen hallten an den Wänden wieder und man versank dadurch in eine völlig andere Zeit. Es ist leider seltener geworden, doch wenn sie diese Auftritte haben, genießen sie die Mönche. Sie sind jeden Alters und kommen aus den verschiedensten Gründen und Schichten in das Kloster.

Das Kloster war natürlich nur für Männer. Für Besucher oder Angehörige und Bekannte gab es ein Gästehaus, das nicht weniger anziehend war. Es war ein sehr altes, aus  grauem Stein erbautes Kloster, hohe mit Buntglas verzierte Fenster und auch dreieckig zulaufende Türen und Kuppeln, sowie religiöse Relikte, ließen erkennen, das es ein Ort Gottes war. Im Eingangsbereich zum Klostereingang war ein wunderschön angelegter Garten, in der Mitte war ein in Schlangenlinien gewundener Weg. Links und rechts davon zierten steinerne Heiligenfiguren den Weg, die immer sauber waren und stets gepflegt wurden von den hiesigen Gärtnern. Steinerne, lebensgroße Engel, die ihre Hände gen Himmel erhoben hatten und ihre Köpfe schräg nach oben gewendet waren. Ihre Augen waren meist geschlossen, doch es gab auch eine Figur, die sie offen hatte.

Sie stand neben einem kleinen Brunnen hinter der Kapelle. Es war ein Engelskind. Es saß auf einem Stein, war in einem weiten Gewand anzusehen und hatte keine Flügel, dafür aber einen Reif um den Kopf, was seine Heiligkeit bezeugen sollte. Seine langen Haare fielen ihm auf die Schultern. Es war dünn und wirkte unschuldig und rein. Es streckte seine Hände nach außen so als wolle es den, der vorbeigeht, berühren, hatte den Mund leicht geöffnet und seine Augen waren groß und ausgeprägt. Jeder der seinen Weg kreuzte, schien sich von seinen Blicken verfolgt zu werden. Diese von Menschen geschaffenen Geschöpfe hatten etwas Beruhigendes, Magisches an sich. Sie waren zwar aus Stein gemeißelt, wirkten aber so menschlich.

 

Und eben dieses Engelskind hatte es Vater Martin Braun angetan, seit der Mirka kannte. Und ihre Bestimmung. Er und Martha haben sich ausgiebig über das junge Mädchen unterhalten. Meist heimlich, ohne Wissen von Christa oder Matthias. Martin war vor 2 Wochen auf einem Kongreß in Lüneburg gewesen, der sich mit Schriften des Alten Testaments beschäftigte und Mysterien und Mythen aus der „alten Welt“ darlegte. Der 35jährige Benidiktiner stammte aus einer großen Familie und wollte immer Priester werden. Er wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf und interessierte sich so sehr für die Schicksale anderer Menschen, das er sein eigenes Leben in den Hintergrund stellte. Er laß gerade die Bibel, als er 18 wurde, ein Geschenk seiner Mutter und war im Begriff, sie auswendig zu lernen, als sein Vater in sein Zimmer stürmte und ihm freudig die Nachricht überbrachte, das er in das Kloster aufgenommen würde. Von da an widmete Martin sein ganzes Leben dem Herrn. Und er wurde Mönch mit einer solchen Hingabe, daß er oberste Abt ihn sogar zu seinem persönlichen Berater ernannt hatte. Was Martin natürlich sehr stolz machte. Doch seit der Geschichte mit Mirka waren die Verhältnisse gespannt. Was Martin im Laufe der Jahre über das Mädchen herausfand und den Abt auch wahrheitsgemäß darüber informierte, ließ diesen zornig werden: „Martin, Du bist ein Mann Gottes. Es ist rührend, wie Du Dich um die Kleine kümmerst und was Du gedenkst, zu tun, wenn etwas mit ihr geschieht, was wir uns nicht erklären können. Doch solltest Du Dich nicht auch Bedürftigen widmen, die Deinen Zuspruch brauchen und Deinen Segen? Du kannst Dich doch nicht einzig und allein um dieses Kind kümmern, deren Schicksal angeblich vorherbestimmt und unabänderlich sein soll? Wir haben mit dem Satan schon sooft gekämpft und meist haben wir verloren. Du bist noch nicht erfahren genug und auch nicht dazu berufen, diese Bürde auf Dich zu nehmen. Dafür haben wir unsere Spezialisten, mein Sohn. Ich möchte nichts mehr davon hören, Martin. Wenn Du noch weitere Nachforschungen über die Familie Kolt betreibst, werde ich Dir den Umgang mit ihnen untersagen.“ Sagte Abt Mertens vor 15 Jahren.

Er war gutmütig und streng mit seinem Schützling und ließ ihn beobachten. Martin mietete sich ein Haus am Ende der Stadt, wohin er sich jedesmal zurückzog, um seine Forschungen zu betreiben. Es war offen für jedermann, Gläubige besuchten ihn und suchten Rat. Es war oft sehr gut besucht und daher ließen die Informanten des Abts bald von Martin ab, da sie dachten, er würde mit den Kolts nicht mehr in Kontakt stehen.

Doch Martha schickte ihm Briefe, indem sie alles aufgezeichnet hatte, was mit Mirka inzwischen passiert war. Und er informierte sie unter dessen mit den Schriften, die er über ihre Bestimmung gesammelt hatte. Auf diesem Kongreß konnte er ohne kontrolliert zu werden, alles an Büchern, alten Schriften des Testaments und Ausschnitte aus verbotenen Aufzeichnungen, die nur für die Bischöfe gedacht waren, abschreiben oder auch die Originale an sich nehmen. Er fand wieder einiges heraus, was von entschiedener Bedeutung zu sein schien. Er hatte alles, was er über Mirkas Bestimmung im Laufe der Jahre gesammelt hatte, sorgfältig in einer alten Kommode verschlossen.

 

Als er das Telegramm für Martha verschickt hatte, um sie über seine Ergebnisse zu informieren, ahnte er noch nicht, daß etwas bei den Kolts passierte, was seinen Plan umwerfen würde. Er stürzte sich danach sogleich wieder über die alten, verblichenen Schriften, die teils in Latein, teils in italienisch geschrieben waren und machte sich an die Übersetzung, als es an der Tür klopfte: „Herein!“ sagte Vater Martin ohne sich von seiner Arbeit abzuwenden. Die Tür knarrte hörbar laut. Martin ging zu seinem Gast. Er blieb mitten im Gehen stehen, als er sah, wer ihn da besuchte. Bruder Darius! Er war der stellvertretende Vertraute seines Abts und hatte den Auftrag ab und zu nach ihm zu sehen. Natürlich mit Voranmeldung. Doch diesmal kam er einfach so vorbei!

„Vater Martin! Guten Abend! Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen?“ fragte Bruder Darius. Er war etwas fülliger, hatte eine braune Kutte an, die mit einer schwarzen Kordel zusammengehalten war. Seine Haare waren rötliche, spärliche Locken und in der Mitte trug er eine Glatze. Er hatte kleine, braune, neugierige Augen und einen dicken Schmollmund mit einem Schnauzer darüber. Martin sog die Luft ein. Dieser Darius hatte ihm gerade noch gefehlt. Er war ein Schwätzer in Martins Augen. Er traute ihm nicht. Seiner Meinung nach war Darius nicht seiner eigenen Meinung mächtig. Er handelte nur aufgrund von Befehlen des Abts und das machte seine Anwesenheit unangenehm. Vater Martin schluckte und hielt ihm zur Begrüßung die Hände entgegen: „Darius. Ich habe zu tun. Ist es etwas von Wichtigkeit? Sonst könntet Ihr ein anderes Mal wieder....“ Bruder Darius lächelte kurz und trat in die Stube: „Es handelt sich um Wichtiges, Bruder Martin, sonst wäre ich nicht hier. Entschuldigt, daß ich mich nicht vorher angekündigt habe, doch dazu war die Dringlichkeit des Falles im Vordergrund. Ich komme von dem ehrwürdigem Abt persönlich. Er möchte Euch dringend sehen. Er...liegt im Sterben.“ Endete Darius mit dramatisch gesenkter Stimme und sah betreten zu Boden. Vater Martin war erschüttert: „Was? Aber...wie....“ begann er und mußte seine Fassung bewahren. Darius setzte sich einfach an seinen Eßtisch: „Er hatte in der gestrigen Nacht einen Herzanfall und fiebert seit dem stark. Er hat Phantasien, er sagt ständig Euren Namen und redet davon, daß er stirbt, wenn Ihr nicht nach ihm seht. Ich bitte Euch, sofort mit mir zu kommen, Martin.“ Darius sah Martin ernst an. Er schwitzte. Und weinte.

 

Vater Martin setze sich ihm gegenüber: „Nun, wenn er nach mir verlangt, werde ich seiner Bitte nachkommen.“ Sagte er mit fester Stimme. Martin erhob sich, zog seine Kutte über, ohne sich noch einmal seiner Arbeit zuzuwenden und begleitete Bruder Darius hinaus. Zwei Pferde standen schon bereit. Voller Sorge ritten die zwei Mönche schnellstens in Richtung Kloster.

 

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Martha trieb Einar an, als wäre Ihnen der Leibhaftige selbst auf den Fersen. Nach knapp 2 Stunden konnte die alte Dame schon das Eingangstor zum Hof erkennen. Sie hörte Wolle von Weiten bellen. Es klang ängstlich. Einar stoppte plötzlich und scheute. Er legte die Ohren an und scharrte mit den Vorderhufen in die Erde. Martha Luisa Kolt spürte, daß Ihr Pferd ebenso Angst hatte. Etwas stimmte hier tatsächlich nicht. Ihre Ahnungen bewahrheiteten sich meist leider. Martha beruhigte Einar: „Ist ja gut, mein Alter, es wird Dir nichts passieren. Ich binde Dich an einen Baum fest. Ruhig, Einar!“ flüsterte sie dem aufgeregten Hengst zu. Seine Augen weiteten sich und er stieg hoch. Bevor Martha noch reagieren konnte, fiel sie nach hinten und direkt auf den Rücken. Unter einem schwachen Auftstöhnen rollte sie sich auf die Seite. Sie konnte nur noch sehen, wie Einer davongallopierte....

„So, er ist....also schon hier.....verdammt, Christa....halte durch, ich...komme!“ stotterte Martha und kam nur mühsam auf die Beine. Sie hatte sich den Knöchel verknackst. Sie schnappte sich einen stabilen, herumliegenden Ast und humpelte entschlossen auf den Kolt-Hof zu......

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Als Mirka mit ihren Geschwistern an dem vereinbarten Treffpunkt ankam, war dort keines der Kinder zu sehen. Auch nicht Malte. Rosalie legte die Ohren an. Etwas schien sie nervös zu machen. Der Grund dafür war schnell zu erkennen: Ein großer, schwarzer Flughund hing kopfüber an dem höchsten Ast im Baumhaus und fraß mit einer Klaue das Obst auf, was die Kinder sich mühsam zusammengesucht hatten. „Psst, Mirka, hier sind wir....hier drüben. Wir haben schon versucht, es zu verjagen, es hat Malte und Jana angegriffen. Andreas wurde das Gesicht zerkratzt, er....ist sofort nach Hause gelaufen....sei vorsichtig und paß auf Janus, Tobi und Rabea auf!“ flüsterte Birte, eines der älteren Kinder ihr von hinten zu. Langsam drehte Mirka sich um. Sie waren alle in einem Gebüsch zusammengekauert. Mirka sah wieder zu dem Störenfried. Es schälte mit seinen Hauern die Schale von eine Zitrone, ließ sie auf den Boden fallen und kaute auf der Schale herum. Es war ungefähr 30 cm groß, seine Flügel müßten eine doppelt so lange Spannweite messen. Sein Fell war braun, er hatte einen großen Kopf, lange, schmale Ohren und schwarze, wachsame Augen. Seine Klauen und die Haken an den Flügeln waren gefährlich scharf, schon gar nicht daran zu denken, wie die Zähne aussahen. Normalerweise waren diese Tiere harmlos. Eigentlich versteckten sie sich vor Menschen und griffen nur an, wenn sie sich bedroht fühlten.

Mirka sah eine Steinschleuder auf dem Boden vor der Seiltreppe liegen, die zum Baumhaus hinauf führte. Eine aus weißen Seilen zusammengehaltene, mit Holzlatten befestigte Treppe waren die Stufen zum Eingang des Baumhauses. Eine gewaltige, weit gefächerte Krone galt als dichtes Dach, daß vor dem Regen schützen sollte. Die Blätter gab es in allen Farben und schimmerten wie golden im Licht der untergehenden Sonne. Der Flughund fraß unbeirrt an seiner Beute weiter. Mirkas Herz klopfte. Was war heute nur los? Erst Mutter und jetzt wurden sie von so einem Störenfried belästigt! Mirka schüttelte stumm den Kopf. Sie strich sich ihre Haare aus dem Gesicht. Ganz langsam, ohne den Blick von dem Flughund zu wenden, bückte sie sich. Mit ein paar Schritten war sie bei der Waffe und hob sie vorsichtig vom Boden auf. Gleichzeitig nahm sie auch einen faustgroßen, grauen Stein mit sich, der nicht weit von der Steinschleuder lag.

Sie taumelte leicht, als sie sich erhob. Da sah sie, wie der Flughund von seiner Tätigkeit abließ. Die Schale fiel aus seinem Maul. Dann breitete es die Flügel aus und glitt geradezu in Mirkas Richtung. Die Kinder hielten vor Angst den Atem an. Malte war starr vor Schreck. Er wollte loslaufen, um Mirka vor dem Angriff zu schützen, sie wegziehen. Doch er hatte Schmerzen. Seine linke Hand blutete am Gelenk, ein tiefer Kratzer war senkrecht bis zu seinem Unterarm zu sehen. Notdürftig hatte er die Wunde mit einem Stück seines Hemdes verbunden.

Rosalie wieherte erschrocken. Mirka versuchte, sich auf den Boden zu werfen und hielt ihre Arme schützend vor ihr Gesicht. Sie ließ den Stein und die Schleuder fallen. Als sie statt dessen versuchte, an den Beutel mit dem Pulver zu kommen, spürte sie den Schmerz an der Schulter, wo ihr Mal war. Ein scharfer Riß  vom Ärmel ihres Kleides war zu hören, der Flughund stieß einen spitzen, langen Schrei aus. Und dann war alles vorbei. Er ließ von Mirka ab und flatterte davon.

Die Starre löste sich aus Malte. Sofort lief er zu Mirka, vergaß seine Verletzung und kniete sich neben dem Mädchen nieder: „Mirka! Alles in Ordnung? Bist Du verletzt?“ redete er auf sie ein. In seinen blauen, klaren Augen glitzerten Tränen. Auch die anderen Kinder kamen zögernd näher und umringten die beiden. Mirkas Geschwister haben sich die ganze Zeit über nicht von der Stelle gerührt. Tobi sprang aus dem Bollerwagen und lief weinend auf seine Schwester zu.  Er umarmte Mirka und erdrückte sie förmlich. Rabea und Janus blickten unsicher in die Luft, um zu sehen, ob der Flughund tatsächlich weggeflogen war. Doch außer leisem Vogelgezwitscher war nichts zu hören oder zu sehen. Dann gingen auch sie zu ihrer Schwester. „Mirka, geht es Dir gut?“ fragten sie wie aus einem Mund.

Die 17jährige fühlte sich wie benommen. Sie fühlte keinen Schmerz, das Tier hatte sie nicht verletzt. Es hatte nur ihr Mal freigelegt. Und war dann verschwunden. Was hatte das zu bedeuten? „Es geht mir...gut, Kinder. Alles in Ordnung, mir fehlt nichts.“ Malte wischte sich verstohlen die Tränen aus dem Gesicht und half ihr auf: „Bist Du sicher?“ fragte er besorgt. Mirka spürte, wie sie rot wurde. Er machte sich Sorgen um sie! Sie lächelte ihn an und nickte. Janus trat an sie heran: „Dein schönes Kleid! Warum hat es Dich gerade da, wo Dein Mal ist, angegriffen?“ Mirka hob die Schultern. Sie sah an ihre Schulter hinunter und faßte den Kleiderfetzen an, der ihren Oberarm zum Vorschein brachte. Ihre Haut war unversehrt. Der Halbmond, der mit ihr gewachsen war, sah nicht mehr dunkelbraun aus. Er war fast schwarz!

Mirka erschrak. Ihr Gesichtsausdruck ließ Malte erneut besorgt aussehen: „Was ist los? Stimmt etwas nicht?“ Mirka hielt ihre Hand über das Mal: „Schon gut. Es ist nichts. Laßt uns diesen Schreck vergessen und ins Dorf gehen. Das Fest hat sicher schon angefangen. Ist alles bereit?“ Sie guckte in die Runde. Die 5 bis 16jährigen Kinder sahen sie an. Ihre von vorhin noch angsterfüllten, kleinen, blassen Gesichter waren jetzt wieder voller Farbe. Ihre Augen glänzten. Während sie in Richtung Dorf schlenderten, berichteten sie Mirka und ihren Geschwistern, was sie sich für das Fest noch alles ausgedacht hatten. Mirka, Tobi, Janus und Rabea waren begeistert. Erst gingen sie eine Weile schweigend, dann begannen sie zu lachen und zu singen. Sie liefen durch den dunklen Wald. Die ersten Glühwürmchen zündeten ihre Lichter an. Wirr flogen sie durch die Luft. Das Leuchten funkelte in Gelb und Blau. Große Libellen surrten durch die Luft.

 

Es würde ein herrliches Fest werden! Mirka und Malte gingen etwas abseits hinter den Kindern. Rabea ritt mit Janus auf Rosalie und eines der anderen Kinder schob Tobi im Bollerwagen mit sich. Malte nahm Mirka bei der Hand und drückte sie fest: „Du siehst trotzdem sehr hübsch aus, Mirka Kolt!“ flüsterte er ihr zu und zwinkerte sie an. Mirka drückte seine Hand ebenso und streichelte sie zärtlich: „Du auch, Charmeur!“ lachte sie ihn an. Schon hatte sie alles um sich herum vergessen. Ihre Mutter, das Mal, alles war nur noch wie eine tanzende Seifenblase, die vor ihr herflog.

Doch kurz bevor sie die einladenden Lichterketten sahen und den herben Duft von Schweinebraten rochen, hielt Mirka inne. Sie dachte an ihre Mutter und das sie vor dem Dunkelwerden wieder heimkommen sollten. Wie ging es Christa nur? Ob sie sich von ihrem Schwächeanfall erholt hatte? Rabea, Tobi und Janus maulten und wollten nicht mit nach Hause. Kurz entschlossen nahm Mirka Rosalie, stieg auf ihren Rücken und gab dem Pferd die Sporen. Ohne, das Malte sie hätte zurückhalten können, sah er seine Freundin mit wallenden Haaren davon reiten....

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Mirkas Großmutter hatte das Tor zum Kolthof aufgestoßen. Sie keuchte. Ihr Rücken schmerzte noch von dem Sturz ihres Hengstes Einar. Sie hielt sich an den Holzpfosten des Tores fest und richtete sich vorsichtig auf. Wolle, der nicht aufgehört hatte, zu bellen, lief ihr entgegen, sprang an ihr hoch und leckte ihr die Hände: „Na, Du großer Beschützer? Was ist mit Christa, Junge? Meine Güte, Du zitterst ja! Wolle, wer ist bei Christa, vor wem hast Du Angst, mein Junge?“ Sie sah ihm kurz in die Augen. Wolle setze sich vor der alten Dame hin. Sein gesamter Körper war ein einziges Vibrieren. Er legte den Kopf schief und winselte. So, als erwartete Martha tatsächlich ein Zeichen des Hundes, fragte sie noch einmal und stütze sich auf den Stock, der sie hielt: „Ist jemand im Haus, Junge? Jemand Böses?“ Wolle bellte einmal. „Gut, mein großer Beschützer. Lauf in die Scheune, hörst Du? Egal, was Du witterst, bleib in der Scheune. Hast Du verstanden, Junge? Lauf!“ Wolle erhob sich, wedelte mit dem Schwanz und sah Martha aus großen, dunklen Augen an. Er sah zum Schlafzimmerfenster, wo Christa lag. Dann sah er Martha an. Er erhob sich und ging erst zögernd, dann entschlossen zur Scheune. Sie war nicht abgeschlossen. Mit eingezogenem Schwanz lief er durch den Türspalt hindurch, ohne es sich anders zu überlegen.

 

Als Martha den Hund in Sicherheit wußte, sah sie ebenso wie Wolle zum Schlafzimmerfenster ihrer Tochter. Den Stock hielt sie so fest umklammert, bis es schmerzte. Fast bedrohlich wirkte das Haus jetzt auf die alte Dame. Sie richtete sich auf und straffte sich: „Ich bin gleich bei Dir, mein Kind. Es wird alles gut. Oh, Mirka, bitte beeile Dich!“ murmelte sie. Sie sah an sich hinunter. Das Hemd an ihrem rechten Oberarm war plötzlich zerfetzt. Es legte ein Mal frei, es war hellbraun und sah aus wie ein Halbmond....

 

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Mit klopfendem Herzen und in Falten gelegter Stirn folgte Bruder Martin seinem Gastgeber Darius durch die weiten, stillen Gänge des alten Klosters. Links und rechts brannten in unterschiedlichen Größen und Haltern Kerzen oder Fackeln. Heiligenfiguren, wie die Jungfrau Maria oder Jesus am Kreuz flogen an ihnen vorbei. Sie hingen in Übergröße von der weißen Deckenkuppel herab oder waren an den weißen Wänden zu bestaunen. In Gold oder Holzfarben glänzten sie im Licht des Feuers und erstrahlten in einem mystischen Glanz.

Die zwei Mönche kamen an ihrem Orden vorbei, der sich gerade auf dem Weg zur Kapelle begab. Sie neigten die Köpfe zu Boden und grüßten die beiden nur flüchtig. Schweigend traten sie in eine kleine Räumlichkeit für Gäste hinein und durchschritten große, breite Holztüren. Sie gingen eine gewundene, enge Wendeltreppe hinunter und dort waren die Gemächer des Abtes.

Er besaß eine eigene Bibliothek, die nur seine engsten Vertrauten betreten durften. Sie enthielt die seltenen Schriften des alten und neuen Testaments, sowie auch ausländische Bibeln oder Pergamentstücke aus alten Reliktsammlungen von der ganzen Welt. Sie waren sehr wertvoll und wurden in einer großen Truhe aufbewahrt.

Sie blieben vor einer schmalen Tür stehen, die spärlich mit einer Öllampe darüber, erleuchtet wurde. Bruder Darius klopfte leise ein bestimmtes Zeichen an die Tür. Zweimal schnell hintereinander, zweimal in langen Abständen. „Tretet ein!“ kam eine schwache, gebrechliche Stimme von innen. Ein anhaltender Hustenanfall folgte.

Mit einem kurzen Blick nickte Vater Martin Darius zu. Seine Hände begannen zu schwitzen. Er wurde nervös. Als sie eintraten, beugte sich gerade ein junger Novize über den kranken Abt. Als er die beiden Mönche erblickte, verbeugte er sich kurz zu dem Abt, küßte seinen großen, silbernen Ring, mit einem roten Rubin in der Fassung. Er nickte Darius zu und verließ das Zimmer. „Martin....bitte, komm zu mir. Darius, verlaßt uns. Es ist...in Ordnung.“ Darius kniff die Augen zusammen und wollte zum Reden ansetzen. Doch der kränkliche Abt winkte ihn hinaus. Darius senkte den Blick und verließ mit schnellen Schritten den Raum.

Martin beugte sich über den alten Mann. Er war sehr blaß und schwitze. Er atmete in kurzen Zügen, es glich eher einem Schnaufen. Als er wieder zu husten begann, hielt Martin ihm ein Taschentuch hin. Es war blutig! „Ehrwürdiger Abt, was habt Ihr mir zu sagen?“ fragte Martin mit trauriger Stimme. Er fühlte, daß sein Lehrmeister dem Tode nah war. „Unter...meinem Kissen....eine Schriftrolle....sie wird Dir....und Mirka Kolt....helfen. Ich weiß, daß ich nicht immer Deiner Meinung war, aber...ich hatte einen Traum...und darum....habe ich mich....entschlossen, Dir zu helfen....es ist nicht viel, aber...Du wirst es...brauchen.“ endete der Abt. Er ließ sich von Martin stützen unter die schweren, weichen Kissen aus rotem Samt zu greifen. Er fand ein altes, zerbrechliches Pergament vor, das mit einer uralten Schrift und einigen Bildern versehen war. Vor allem fiel Martin sofort ein Zeichen auf den 3 Seiten auf. An den Seitenenden war neben der Zahl die Form eine Halbmondes zu erkennen! Das bedeutete, wenn er diese Schriften übersetzte, fand er wieder etwas über Mirkas Bestimmung heraus. Ihm klopfte das Herz so hart gegen die Brust, daß er kaum wagte, zu atmen. Er druckte die kraftlose Hand seines Abts: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke, Euer Hochwürden. Danke.“ Der Abt sah ihn mit verschleiertem Blick an. „Und nun geht. Ihr habt nicht mehr viel...Zeit. Das Böse ist...schon in Rabenhorst...geht!“

Bruder Martin erhob sich. Als er sah, daß der Abt völlig erschöpft die Hände neben sich fallen ließ und seine Augen gebrochen waren, bekreuzigte er sich. Der Abt hatte seinen letzten Atemzug getan. Vater Martin wollte noch einmal zu ihm gehen, um ihn den Segen zu geben und seine Augen zu schließen. Doch die letzten Worte des Abts hinderten ihn daran.

Das Böse ist in Rabenhorst, hallte die Stimme des alten Mannes in seinem Kopf. Er schloß leise die Tür hinter sich und wäre beinahe mit Darius zusammengestoßen. In dessen Blick lag Wut, das er nicht in die Unterredung mit einbezogen worden war. Als Bruder Martin ihm berichtete, daß der Abt gestorben sei, verwandelte sich sein Blick in tiefe Bestürzung. Sofort ging Darius in das Zimmer des Abts.

Der Mönch verbarg die Schriftrollen unter seinem Gewand und eilte aus dem Kloster, um so schnell wie möglich seine Arbeit aufzunehmen und die Schriften zu übersetzen.

 

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Martha Luisa Kolt spürte die Kälte. Sie fröstelte, ließ sich dadurch nicht beirren. Ihr Herz schlug schneller. Sie stützte sich an dem Stock und sah zu Christas Fenster hinauf. Gerade, als sie vor der Haustür stand, hörte sie von weitem Mirka rufen: „Großmutter! Ich bin da! Was machst Du hier? Ist was mit Mama?“ Sie stieg ab und band Rosalie am Zaunpfosten fest. Aufgeregt lief sie zu Martha, die sich nicht eher umdrehte, als ihre Enkelin bei ihr war: „Gut, das Du da bist, mein Kind. Wir müssen zu Christa. Gemeinsam schaffen wir es vielleicht und Du wirst...mein Erbe antreten.“

Sie sah Mirka ernst an, die sie jedoch verwirrt ansah: „Erbe? Was schaffen wir? Ich versteh kein Wort, Oma!“ Martha stieß den Stock von sich und hakte sich bei Mirka unter. Sie bemerkte ihren zerrissenen Ärmel: „Siehst Du? Als Dir das passierte, bekam ich dasselbe zu spüren! Ich erkläre Dir alles später. Laß uns jetzt zu Christa gehen. Komm, mein Kind! Jede Minute ist kostbar!“ nickte sie Mirka zu und deutete auf ihren zerrissenen Ärmel. Voller Staunen sah Mirka, daß auch ihre Großmutter dasselbe Mal trug, wie sie selbst! Was hatte das nur zu bedeuten? Waren sie etwas besonderes? Sie stießen die Haustür auf. Eisiger Wind durchfuhr sie. „Warum ist es auf einmal so kalt hier? Und wo ist Wolle, Oma?“ Marhta faßte Mirka an die Hand: „Stell nicht so viele Fragen, Liebes. Wolle ist in der Scheune, dort ist er sicher.“ Mirka blieb stehen: „Sicher? Wovor? Was zum Teufel ist hier eigentlich los, Großmutter?“ Martha zog sie dicht zu sich: „Genau das, meine Kleine: Der Teufel. Du verstehst schon langsam, was Dir bevorsteht. Vertrau mir, bitte, Liebes. Ich liebe Dich und ich brauche Deine Hilfe. Wenn wir Christa sehen, wirst Du verstehen. Es bleibt keine Zeit mehr! Komm jetzt!“

 

Mirka erschrak über die seltsamen Worte ihrer Großmutter. Doch sie muß ja wissen, was los ist, dachte sie sich. Vielleicht hat sie die bösen Träume von Christa gespürt, dachte Mirka. Sie schluckte: „Na schön. Christa hatte Alpträume, aber sie wollte nicht darüber sprechen. Als ich sie fragte, ob ich Dich holen sollte, winkte sie ab.“ Martha nickte nur.

Sie legte warnend den Finger an den Mund, als sie vor Christas Schlafzimmer standen: „Egal, was Christa tut oder sagt. Es ist nicht ihre Schuld, Mirka. Sie ist....nicht sie selbst. Und wir...wir beide haben die Aufgabe, das, was von ihr Besitz ergriffen hat, von ihr zu nehmen. Du hast das Mal seit Deiner Geburt. Genau wie ich, mein Kind. Doch ich wollte nicht, daß Christa davon erfährt, weil sie auch meine Bestimmung nicht kennt. Wenn...ich noch dazu imstande bin, werde ich Dir alles sagen. Vater Martin weiß...auch Bescheid, er....versucht, Genaues darüber herauszufinden.“ Bevor Mirka den Mund für Fragen öffnen konnte hörten sie einen dumpfen Knall von innen. Christa fluchte unschöne Beschimpfungen und schrie nach ihrer Familie. Mirka erschrak. In der Stimme ihrer Mutter lag der pure Haß. Martha drückte Mirkas Hand und sah sie mit verweinten Augen an: „Bist Du bereit?“ Mirka atmete tief aus. Langsam nickte sie. Vorsichtig drückte Martha die Türklinke herunter....

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Die Tür öffnete sich knarrend. Die Kälte kam den beiden Frauen in einem Luftzug entgegen geschossen. Martha wagte sich ein Schritt vor. Als Mirka völlig verwirrt auf der Türschwelle stehenblieb, griff ihre Großmutter nach hinten und faßte sie am Arm: „Du darfst keine Angst haben, mein Kind. Sie ist immer noch Deine Mutter. Das vergiß nicht!“ Flüsterte die alte Frau. Sie drückte Mirkas Hand so fest, daß sie endlich in den Raum hineintrat.

Christa lag neben ihrem Bett auf dem Rücken. Ihre Haare klebten ihr im Gesicht. Schweißgeruch strömte den beiden Frauen entgegen. Sie hatte alle Viere von sich gestreckt. Mirka bekam es mit der Angst zu tun. Doch sie schluckte diese tapfer hinunter. Sie sah ihre Großmutter an, die jedoch nicht darauf achtete, sondern starr auf ihre Tochter sah: „Christa! Hörst Du mich? Oder wer immer Du bist?“ fragte sie mit energischer Stimme. Christa hob den Kopf und sah Martha an.

Mirkas Augen weiteten sich, als sie in das Gesicht ihrer Mutter blickte. Ihre Augen waren gerötet und zu Schlitzen verengt. Ihr Mund hatte jegliche Farbe verloren, er war aufgeplatzt und sie blutete aus den Mundwinkeln. Ihre Hautfarbe wich dem braungebrannten Teint und fiel ins schale Grau ab. „Was....willst Du....nervende, alte Vettel denn? Du hast hier nichts verloren! Verschwinde!“ Christas Stimme war Mirka völlig fremd geworden.  Sie war heiser und viel tiefer. Das war nicht ihre Mutter, die da lag! Irgend etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Martha hielt Mirka immer noch an der Hand. Mit dem Daumen streichelte sie beruhigend die Innenfläche der Hand ihrer Enkelin. Sie will mich beruhigen, dachte Mirka.

Als wäre Mirka hypnotisiert, konnte sie den Blick nicht von Christa abwenden. Sie kämpfte damit, ihre Tränen zurückzuhalten. Martha Luisa Kolt trat wieder ein Schritt vor: „Wie redest Du mit mir? Ich bin immer noch Deine Mutter! Laß mich Dir helfen! Du bist nicht Du selbst!“ Christa schloß plötzlich die Augen.

Und mit einem Mal hörte Mirka ihre Stimme, die mütterliche Stimme in ihrem Kopf! „Ich bin krank, Mirka! Er hält mich fest! Ich habe Angst! Hilf mir, bitte! Nur Du kannst es! Nicht sie....Martha ist...Gift für mich...bitte, sag ihr, sie soll...weggehen....er bringt....mich sonst um!“ Mirka taumelte rückwärts, aber Martha hielt sie eisern fest. Nun konnte sie plötzlich auch die Stimme von ihrer Großmutter in ihrem Kopf hören: „Hör nicht hin, Kind. Er will Dich verwirren. Sie ist besessen, Mirka, ein Dämon hat ihren Körper in Besitz! Sie spricht so zu Dir und will Dich vor meiner...unserer Macht warnen. Tu was ich sage, Mirka. Sprich mir jetzt genau das nach, was ich nun sagen werde und vielleicht ist er dann zu vertreiben. Drücke meine Hand, wenn Du bereit bist!“

Mirkas Augen waren mittlerweile verschleiert, da ihre Tränen sie daran hinderten, ihre Mutter anzusehen. Sie konzentrierte sich und dachte ganz fest an ihre Mutter. „Ja, ich...tue es. Ich habe...keine Angst.“ Martha sah Mirka an. Sie hatte in Gedanken zu ihrer Großmutter gesprochen. Martha lächelte Mirka an. Es begann...die Prophezeiung erfüllte sich also. Martha fühlte den festen Händedruck Mirkas. Beide sahen sie auf das „Ding“, was in Christas Körper steckte und Martha begann zu sprechen, in einem alten, heidnischen Dialekt, den weiße Hexen für Bannsprüche benutzten: „Dunkle Seele, dunkler Gott, weiche von diesem heiligen Ort, unsere Liebe, unsere Macht, ist zum Schutz der Reinen gedacht! Geh fort von diesem Menschenkind, weil wir Seelenjäger sind!“

Sie hielten ihre verbundenen Hände über Christas Kopf. Diese schrie sie an, bespuckte sie und versuchte, ihre Hände voneinander zu lösen. Sie kroch auf ihre Tochter zu und biß in ihr Handgelenk, spie das Blut aus und taumelte zurück. Sie schüttelte den Kopf, zog an ihren Haaren und redete wie ein Wasserfall in einer Sprache, die Mirka nicht verstand.

 

Sie wiederholten solange diesen Satz, bis Christa oder wer immer das auch war, völlig erschöpft auf ihr Bett krabbelte und wie leblos liegenblieb. Ihr Atem ging schnell und es klang so, als war da noch ein fremdes, rasselndes Geräusch, das mit ihr im Takt atmete. Der „Dämon“ war noch da, doch jetzt nicht mehr aktiv.

Martha ließ Mirkas Hand los und atmete erschöpft aus. Sie ging in die Knie. Auch sie war völlig erschöpft. „Großmutter, alles in Ordnung?“ fragte Mirka besorgt. Martha legte warnend den Finger an den Mund: „Sei leise, Mirka. Der Dämon ist noch da, aber er ist jetzt ruhiggestellt. Wir haben ihn gebannt. Das hast Du sehr gut gemacht, meine Liebe. Für den Anfang.“ Sie erhob sich, um Mirka fest an sich zu drücken. „Wie hast Du uns genannt? Wir sind Seelenjäger? Was ist das?“

Martha nahm ihre Hände in die ihren: „Das Ding hat Dich gebissen. Siehst Du?“ Mirka sah die Bißabdrücke schwach am Handgelenk, eine kleine Wunde verlief in einer Art Halbkreis an der Innenseite ihres Unterarmes. Doch das Blut, was austrat, ging wieder zurück! Die Wunde schloß sich, wenn auch langsam, wie von selbst! Mirka staunte mit offenem Mund: „Wie...ist das möglich?“

Martha nickte ihr aufmunternd zu. Sie zeigte auf das Mal an ihrer Schulter und deutete auf das von Mirka. „Das macht es möglich, meine Kleine. Der Ruf wird Dir bald Geleit geben in eine andere Welt. Du wirst von höheren Mächten gerufen, so war es auch bei mir. Sie werden Dich zu einer Seelenjägerin machen, zu der Du bestimmt bist, Mirka. Meine Zeit ist gekommen, mein Erbe weiterzugeben. An Dich. Du hattest bei Deiner Geburt die Male Christi, die Stigmata. Du hast am Kopf und an den Händen geblutet und das Mal hat sich gebildet. So war es auch bei mir. Die andere Seite hat sich meinen Mann....Deinen Großvater geholt, Gott sei seiner Seele gnädig. Das war meine harte Prüfung, so wie Christa Deine ist. Doch ich...habe ihn nicht...retten können und mußte...ihn vernichten. Ich habe den Menschen, den ich über alle Maßen geliebt habe, töten müssen. Ich war noch so jung und habe keine Kontrolle über meine Kräfte gehabt. Sie wurden ihm...schließlich zum....Verhängnis.“

Martha setzte sich auf den Holzschemel an dem Tisch, der etwas weiter vom Bett weg stand. Sie ließ „Christa“ nicht aus den Augen, schwieg aber betroffen. Eine Träne lief ihr die linke Wange hinunter. Christas Körper rührte sich nicht für diesen Moment. Sie schien zu schlafen.

„Warum erfahre ich das erst jetzt? Warum hast Du mir nie etwas gesagt? Ich hatte sogar einen Großvater! Und Du meinst, diese hohe Macht hat Mutter verflucht, damit ich sie erlöse? Ich bin doch keine Seelenjägerin! Dieses Mal ist der Beweis? Ist das alles? Wie...soll ich Mutter von diesem...diesem Dämon befreien? Wer ist er?“ 

Martha winkte Mirka zu sich. Sie setzte sich und strich sich ihre Strähnen aus dem Gesicht. Auf einmal spürte auch Mirka, wie sie diese Prozedur mitgenommen hatte. „Ein Schattendämon. Sie wollen die Seelen der Menschen für sich. Um sie zu sich zu holen, damit sie ihnen dienen. Sie sind Täuscher, Verführer, Lügner. Sie machen Dich glauben, was Du sehen willst und erfüllen Dir alles, was Du Dir wünschst. Sie sind sehr gefährlich. Ich kenne diese Sorte zur Genüge. Ich weiß, es ist ein bißchen viel aufeinmal für Dich, zu begreifen, wozu Du fähig bist. Mir ging es damals genauso. Ich wollte kein Soulhunter sein, so ist die vornehme Bezeichnung aus dem fernen, weiten London. Uns gibt es auf der ganzen Welt. Nur mit einem Nachteil. Kein Soulhunter weiß von dem anderen. Jeder kämpft für sich allein gegen das Böse. Darum ist es auch so schwierig, jemandem sein Schicksal zu offenbaren, der es eigentlich noch nicht wissen sollte. Erst mit Deiner Volljährigkeit hättest Du dem Ruf folgen sollen. Doch nun ist alles anders. Ja, es ist eine Prüfung, mein armes Mädchen. Die Stimme, die Christa in Deinem Kopf war, hatte recht. Nur Du allein bist in der Lage, meine Tochter von dieser Bestie zu befreien. Meine Macht ist zwar groß, doch Du bist stärker, auch wenn Du das jetzt noch nicht weißt, meine süße, kleine Mirka. Wenn es soweit ist, wirst Du wissen, was zu tun ist. Und Du darfst Dich nicht blenden lassen, das ist das Wichtigste. Er wird sich in andere Personen verwandeln. Menschen, die Du gern hast. Du darfst ihm auf keinem Fall glauben, egal, was er sagt! Es sind Lügen! Hör auf Dein Herz, Kind. Ich weiß, wie sehr Du Christa liebst und sie liebt Dich. Sie würde sogar für Dich sterben. Wenn es der Wille Gottes ist, opfert sie ihren Körper der Hohen Macht. Doch ihre Seele nimmst Du mit Dir. Du wirst verstehen, wenn es soweit ist. Die Seele eines geliebten Menschen ist das Wichtigste, was unsere Existenz bestätigt. Sie behält die Liebe, die Erinnerung an das Leben des Menschen, für sich. Und das versuchen wir, zu bewahren, mein Kind.“

Mirka war nun noch verwirrter als vorher. Doch sie begriff allmählich, wie ernst es ihrer Großmutter war. Und als sie ihr Mal ansah und über das eigene strich, wurde ihr bewußt, daß Martha Recht hatte. „Ich habe Durst. Ich hole uns etwas aus der Küche, ja? Wir können in Ruhe reden. Oder? Was ist mit Mutter? Wann wird sie oder es erwachen und...was muß ich nur tun? Ich...habe Angst um sie, Oma!“

Martha sah aus dem Fenster. Es war dunkel. Der volle Mond leuchtete in das Fenster und ließ den Körper ihrer Tochter auf dem Bett in einem weißen, grellen Licht erscheinen. So als würde sie von einer unsichtbaren Barriere umhüllt. „Es sind schon einige Stunden vergangen. Das Herbstfest! Deine Freunde warten auf Dich! Malte macht sich bestimmt schon Sorgen?“ grinste die alte Dame ihre Enkelin an.

Mirka verschränkte die Arme ineinander. Und lächelte sie ebenfalls an, trotz des Ernstes der Lage: „Großmutter! Wir kämpfen um das Leben von Mama und Du machst Dir Sorgen, was Malte denkt! Janus, Rabea und Tobi sind bei ihm und er weiß, wo ich bin. Er wartet auf mich. Und Du meinst, ich kann so einfach feiern, während meine arme Mutter hier liegt und von einem....Schattendämon besessen ist?“

Martha nickte: „Christa schläft und der Dämon somit auch. Er ist im Moment gebannt. Es kann nichts geschehen. Wir haben ihn mit unserem Spruch gelähmt. Erst bei Tagesanbruch vergeht die Macht. Du mußt Dich auch erholen, Kräfte sammeln. Geh, Mirka! Vater Martin wird auch da sein. Er wird Dir weiterhelfen. Er weiß mehr über unsere Bestimmung als wir beide zusammen. Er kennt mich auch seit Deine Mutter damals mit Dir schwanger war. Er hat Dich getauft, das weißt Du doch? Ich bleibe noch ein Weilchen bei Christa. Sei unbesorgt. Und Wolle ist auch noch da. Was kann schon passieren? Vertrau mir! Du hast jetzt Macht in Dir, meine Kleine. Sie ist im Begriff, geweckt zu werden. Nur Du kannst sie kontrollieren und spüren, wann Du sie nutzen mußt. Vertraue Dich keinem außer Vater Martin und mir an. Auch Malte und den anderen nicht. Nicht einmal Deine Geschwister dürfen wissen, wer Du wirklich bist. Das hat alles seine Gründe, Mirka. Es tut mir leid, doch so sind die Gesetze nun einmal. Und nun laß uns nicht lange reden. Bring mir ein frisches Glas Wasser und zieh Dich um. Rosalie sind sicher schon die Hufe in den Boden gewachsen. Die Luft ist klar und der Mond scheint herrlich! Ich komme nach, versprochen!“

Mirka nickte ihrer Großmutter stumm zu. Sie lief nach unten in die Küche und holte ein Glas, um es mit frischem, kalten Brunnenwasser zu füllen, das in einem einfachen Holzeimer neben dem Herd stand. Sie mußten es immer wieder neu auffüllen, denn es gab nichts Erfrischenderes, als ein guter Schluck Wasser.

Mit einem letzten Blick auf ihre „Mutter“, die sich immer wieder stöhnend herumwälzte, rannte sie in ihr Zimmer, zog nun ein blaues Kleid an, kämmte sich kurz ihre Haare, die sie jetzt offen ließ, atmete tief ein und aus. Dann lief sie, wenn auch erst zögerlich, in den Hof, wo ihr Wolle aus der Scheune entgegen gerannt kam. Sie strich ihm über den Kopf: „Geh zu Großmutter. Paß auf sie und...Mutter auf. Ich bin bald zurück!“

Wolle bellte anhaltend, knurrte und legte die Ohren an, als Mirka Rosalie losband. Sie hörte ihre Oma von innen den Hund ins Haus hinein rufen. Das Tier drehte sich um und ging, allerdings mit eingeklemmten Schwanz, ins Haus.

Als Mirka aufsaß, spürte sie auch, wie unruhig Rosalie war. Auch sie legte die Ohren an, schnaufte dabei unruhig. „Ich weiß auch, das hier was nicht stimmt, Rosa. Komm, laß uns verschwinden!“ sagte sie ihrer Stute entschlossen und trieb sie an.  So ritt Mirka Kolt im Galopp mit dem Mond um die Wette....

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Martha stand am Fenster und sah Mirka besorgt nach. Sie fühlte sich erschöpft. Ihre Kraft war beinahe verbraucht, soviel Energie kostete sie ihre Macht. Und das viele Reden. Sie hatte sich gewünscht, in Ruhe mit Vater Martin und ihr über diese ganzen Umstände zu sprechen, doch das Schicksal lies dies nicht zu. Ein Stöhnen hinter ihr, ließ die alte Seelenjägerin aufhorchen. Sie schloß die Augen und atmete tief aus. „Kreide. Ich brauche Kreide.“ sagte sie zu sich. Mit einem hastigen Blick auf ihre besessene Tochter, die sich im mittlerweile völlig zerwühlten Bett hin und her wälzte, ging sie hinunter in das Zimmer von Janus und Rabea. Sie durchwühlte alle Schubladen und Schränke, bis sie fand, was sie brauchte. Sie hielt die schmalen, weißen und bunten Stäbchen in die Höhe und murmelte einen Vers aus einem ihrer Schattenbücher. Ihre Hände leuchteten kurz in einem hellen Licht auf, das auch sofort wieder verschwand.

Auch dieser Akt schwächte Martha. „Ich muß durchhalten....bis....Mirka soweit ist....“ sprach sie sich Mut zu. Ihre Hände umklammerten zitternd die Kreide. Langsam, mit Tränen in den Augen, ging sie zu Christa, die immer noch zu schlafen schien....

 

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Bunte, warme Lichter in allen Farben, Formen und Größen empfingen Mirka, so wie ihre Freunde und Geschwister. Sie war völlig außer Atem und hatte sich bemüht, ihre Sorgen um Christa und Großmutter in andere Ecken ihres Kopfes zu verstreuen. „Da bist Du ja endlich. Wir haben schon auf Dich gewartet. Ohne Dich wollten wir nicht anfangen. Wo ist Deine Mutter?“ redete Malte auf sie ein und half ihr, von Rosalie abzusteigen. Rosalie schnaufte noch deutlich von dem anstrengendem Ritt und wurde von einem Bekannten der Familie zur Brunnentränke gebracht, an der sie ihren Durst stillen konnte. Mirka umarmte Malte kurz, mit roten Wangen und klopfendem Herzen flüsterte sie ihm ins Ohr: „Sie fühlt sich nicht so gut. Ich habe Oma geholt. Sie ist bei ihr und kommt bald nach. Mach Dir keine Sorgen. Ich weiß, wie ich Mama helfen kann. Ich muß mit Vater Martin reden, wenn ich ihn treffe. Und zwar allein. Bitte hab Verständnis, ja?“ Malte sah sie mit zusammengekniffenen Augenbrauen an: „Was hat Christa? Und warum diese Heimlichtuerei? Vertraust Du mir nicht?“ Mirka gab Malte einen Kuß auf die Wange. „Doch, doch. Stell keine Fragen und vertrau mir einfach, Malte. In Ordnung? Und jetzt laß uns feiern, komm. Christa ist zäh, sie wird schon wieder.“ Bei dem letzten Satz mußte Mirka allerdings einen Kloß im Hals hinunter schlucken.

Malte rieb sich die Wange, wo sie ihn geküßt hatte: „Jetzt heißt es nur noch Katzenwäsche machen, hm...“ lachte er sie an und lief mit ihr Hand in Hand zu dem großen, langen Holztisch an dem alle Dorfbewohner saßen, aßen und tranken. Jeder war fröhlich und keiner ahnte etwas von dem Grauen, was sich langsam über Rabenhorst breitmachte...

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Nachdem Martha mit der verzauberten Kreide einen Schutzkreis um Christas Bett gezogen hatte, schnitt sie sich mit einem langen Daumennagel in den linken Zeigefinger und ließ ein paar Tropfen ihres Blutes auf die Kreide fallen. Ihr Blut begann sich, wie im Gänsemarsch auf der Kreide in kleinen Rinnsalen zu verteilen. Marthas Herz klopfte wie verrückt, feine Schweißperlen liefen ihr an den Schläfen hinunter. Sie umwickelte ihren Finger mit einem Stück ihres Kleides. Dann sah sie auf die Uhr: halb eins! Mit einem Seufzer rappelte sie sich hoch, um sich gleich wieder hinzusetzen. „Die Kinder....ich muß ein paar Sachen holen...hier können sie nicht bleiben. Am besten sie schlafen bei Vater Martin, bis....“ murmelte sie, mit einem letzten Blick auf ihre besessene Tochter. Sie konnte mit Schrecken beobachten, wie Christas Haare immer mehr verklebten und das Schlimmste war: Sie wurden grau. Christas gebräunte Haut verlor jegliche Farbe, sie wurde kalkweiß und bekam Falten. Sie alterte langsam. Dieser Schattendämon war einer von der Sorte, die den Menschen auch noch ihre Lebenskraft nahmen. Nichts wie raus hier! Ging es Martha durch den Kopf. Sie konnte diesem Anblick nicht länger ertragen. Sie huschte in die Zimmer von Rabea, Tobi und Janus, packte Schlafzeug und neue Kleider für die nächsten Tage unter ihre Arme und verließ das Haus.

Im Hof blieb sie stehen und pfiff einmal durch die Zähne. Wolle kam diesmal schwanzwedelnd angelaufen und sprang an ihr hoch. Er winselte. „Alles wird gut, Wolle. Keine Angst. Im Moment sind wir sicher. Komm!“ Mit schnellen Schritten ging sie in die Dunkelheit, den Hund treu an ihrer Seite wissend. Große und kleine Glühwürmchen flogen vor ihnen her, als wollten sie ihnen den Weg weisen. Plötzlich schwebte eine helle, faust- große, bläulich schimmernde Kugel vor Martha her. Direkt vor ihrem Gesicht. Martha wies den Hund an, stehen zu bleiben. Wolle setzte sich auf den Hintern und beobachtete die Kugel mit großen Augen.

 „Was willst Du, Elfe? Ich habe keine Zeit!“ nannte Martha diese Kugel. Sie wußte, daß die Elfe ihr etwas mitteilen wollte. Die blaue Kugel wurde auf einmal in die Länge gezogen und platzte wie eine Seifenblase auseinander. Ein wunderschönes, kleines Wesen mit durchsichtigen Flügeln und spitzen Ohren und einem Krönchen auf ihren langen, goldenen Locken flog dicht vor ihrer Nase. Sie trug ein weißes, langes Gewand. Ihr kleinen Ärmchen fuchtelten vor Marthas Augen hektisch hin und her. Ihr feines Gesicht mit den hellen, grünen Augen blitzte ihr frech entgegen: „Wie redest Du mit der Königin, alte Frau?“ Martha rieb sich die Augen. Die Elfenkönigin! Sie war ihr zuvor noch nie begegnet, immer nur Elfen ihres Volkes. Dann muß es ja etwas Wichtiges sein, wenn es die Königin persönlich ist, ging es Martha durch den Kopf: „Verzeiht mir, Hoheit, ich habe Sorgen. Ich muß zu meiner Enkelin. Wenn Ihr mir etwas mitteilen wollt, dann....“ Die Elfenkönigin flog auf Marthas Schulter und ließ den Kopf hängen: „Mein Volk spürt große Unruhe in unserem Wald. Friedliche Tiere werden auf einmal wild und böse. Ein harmloser Flughund hat Mirka angegriffen. Als er ihr Mal freilegte, war einer unserer Späher in der Nähe. Er sah, wie die Augen des Flughundes rot aufblitzen. Es geschieht etwas, Martha. Mit uns allen. Wir sind in Gefahr. Wir wollen Dir helfen. Du bist eine Seelenjägerin und willst, daß Mirka Dein Erbe fortführt. In ihr wächst große Macht. Doch sie hat Angst. Sie weiß noch nicht, wie sie mit ihren Kräften umgehen soll. Die Hohen Herren haben uns ein Zeichen gegeben. Sie werden Mirka bald rufen.“ Martha ließ ebenso den Kopf hängen: „Ich weiß, Hoheit. Darum ist es jetzt wichtig, wachsam zu sein.“ Die Elfenkönigin bemerkte den Riß an ihrem Ärmel, wo ihr Mal sich abzeichnete. „Genau dieselbe Stelle war bei Mirka auch abgerissen, so daß ihr Mal freilag. Ich werde es flicken.“ Bevor Martha etwas erwidern konnte, spürte sie ein Kitzeln an ihrer Schulter. Die Elfenkönigin blies etwas auf den Riß. Silberner, feinkörniger Staub setzte sich an dem Riß fest. Wie ein Reißverschluß fand der getrennte Stoff wieder zusammen. Der Riß schloß sich langsam von oben nach unten. Als der Riß sich geschlossen hatte, sah man keine Spur mehr, weder von dem Mal, noch, daß dort ein Riß gewesen war. Der Silberstaub rieselte von ihrem Ärmel und flog wieder in den offenen Mund der Elfenkönigin zurück. „Haben die Hohen Geister noch etwas gesagt?“ Die Elfenkönigin schüttelte ihre Locken. „Wenn es soweit ist, sind wir bereit. Wir beten für Euch und helfen Euch, wenn die Zeit nahe ist. Seid vorsichtig. Spart Eure Kräfte.“ Martha brannten noch einige Fragen auf der Zunge, doch da verwandelte sich die Elfenkönigin auch schon wieder in eine blaue Kugel und flog davon. Wolle war die ganze Zeit auf seinem Fleck sitzen geblieben. Nun löste er sich aus der Starre und bellte leise.

Der alten Dame stiegen unwiderstehliche Gerüche in die Nase. Schweinebraten, Rehkeulen, hm. Bei den Gedanken an die Leckereien knurrte ihr Magen. Sie sah auf: „Wir sind da, Wolle! Such Mirka, mein Junge!“ Der Hund lief auf die Lichter zu und verschwand im Getümmel der Dorfbewohner.

Geblendet von den Lichterketten und Fackeln, hielt sich Martha die Hand vor Augen. Erst jetzt bemerkte sie, wie erschöpft sie wirklich war. Sie fiel auf die Knie und begann zu husten. Im nächsten Augenblick packten sie zwei starke Arme und trugen sie mit sich. „Martin. Gut, das Du da bist! Hast Du schon mit Mirka....“ begann Martha leise. Vater Martin schüttelte den Kopf. „Ich hatte bisher noch keine Zeit. Ich habe die Schriften übersetzt, die ich vom Bischof erhielt und wir sind am Ziel, Martha. Mein Lehrer und Mentor ist gestorben. Er gab mir wichtige Hinweise über Euch. Es wird alles gut. Ich werde nachher mit ihr sprechen. Sie ist so glücklich mit Malte. Sie hat für einige Stunden alles vergessen. Ruh Dich aus. Ich hole Dir etwas Wein.“

Martha wurde von Martin und einem der Dorfältesten zu einer Bank geführt. Sie wollte keinen Wein, doch sie widersprach nicht. Sie spürte jeden Knochen, jeden Muskel. Ihr Herz schlug unregelmäßig. Sie holte tief Luft. Ihre Hände zitterten leicht. Sie schwitzte. Dann sah sie auf den Festplatz und ihre Enkelin mit Malte. Sie tanzten zur fröhlicher Geigenmusik. Tobi, Janus und Rabea erblickten ihre Großmutter und liefen auf sie zu. Tobi setzte sich auf Marthas Schoß: „Wo warst Du denn solange, Omi? Wo ist Mama? Sie wollte auch kommen!“ Martha mußte hart schlucken: „Mama schläft. Ich habe ihr Medizin gegeben. Sie ist sehr krank, kleiner Tobi. Deswegen werdet ihr alle die nächsten Tage in Vater Martins Gasthaus schlafen. Mirka macht Mama wieder gesund, das verspreche ich. Ich helfe ihr dabei.“ Tobis Augen weiteten sich. „Aber....was ist mit Mama? Wird sie...wird sie....sie wird doch nicht...“ Tobis Augen füllten sich mit Tränen. Martha drückte den kleinen Jungen an sich. Rabea und Janus waren ganz still geworden. Rabea setzte sich neben ihre Großmutter und streichelte Tobi durchs Haar: „Wieso können nur Mirka und Du Mama wieder gesund machen? Ich möchte in meinem eigenen Bett schlafen! Oma, bitte! Wir sind eine Familie. Wir können Mama doch nicht alleine lassen!“ Auch in Rabeas Augen sammelten sich Tränen. Janus kniff die Augen zusammen: „Was ist los, Oma? Kannst Du es uns nicht sagen? Was ist mit Mutter los? Sie...hat doch nichts Ernstes? Wird sie wieder gesund? Warum bringen wir sie nicht zu Doktor Gamt? Oder rufen einen Zauberer oder eine weiße Hexe....oh...ich...es tut mir leid, Granny!“ Janus ging rückwärts von Martha weg und lief in die Menschenmenge. Er wußte ja, daß seine Oma eine Art „weiße Hexe“ war. Doch der Gedanke, daß seiner Mutter etwas zustoßen könne und er sie nicht beschützen durfte, ertrug er nicht. Janus zeigte selten seine Wut, doch diesmal spürte Martha sie deutlich. Und sie konnte es ihm nicht verübeln.

Die Kinder hatten so viele Fragen, die natürlich auch berechtigt waren. Doch Martha konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen. Sie würden es nicht begreifen. Sie konnten nicht wissen, was mit ihr und Mirka geschah. Und sie durften es auch nicht. Zu ihrer eigenen Sicherheit. „Tobi, Rabea, macht Euch keine Sorgen. Vertraut mir einfach. Alles wird wieder gut. Ich kann Euch nur raten, bei Vater Martin zu bleiben. Dort seid ihr...besser aufgehoben, bitte tut was ich Euch sage. Ihr könnt Eurer Mutter nicht helfen. Aber Mirka und ich können es. Glaubt mir! Und jetzt geht und vertreibt Eure traurigen Gedanken. Es wird alles wieder gut!“ Die beiden Kinder wischten sich ihre Tränen fort. Rabea nahm Tobi an die Hand und lief mit ihm zu den Gauklern, die sich um einer der zahlreichen Lagerfeuer tummelten.

Vater Martin kam mit einem Krug Wein und Bechern zurück: „Trink, Martha. Du wirst es brauchen.“ Er schenkte sich und Martha ein: „Auf Mirka!“ sagte der Pater feierlich. Sie stießen an. Obwohl der Wein Marthas Verstand ein wenig beflügelte, hatte sie nichts gegen eine Ablenkung. Die Lage war ernst. Doch sie mußte ihre letzten Kräfte mobilisieren. Als alle im Takt der Musik klatschten und die Menge eine Polka tanzte, stand auch Martha auf und reihte sich mit ein. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wir Malte mit Mirka ausgelassen tanzte. Sie schien wirklich alles um sich herum vergessen zu haben....und das war für ein paar Stunden auch gut so.

Der volle Mond erhellte den Dorfplatz. In den Bäumen raschelte es geheimnisvoll. Dunkle, sich aneinanderreihende, lange Schatten bewegten sich hektisch in den Baumwipfeln. Rote, kleine Punkte blitzten kurz auf und verschwanden auch schnell wieder. Dann erhoben sich die Schatten in den Nachthimmel. Fledermäuse, Flughunde und andere Nachtwesen flogen auf den großen, weißen Mond zu. Und von allen Seiten stießen immer mehr hinzu. Der weiße, kraftvoll leuchtende Mond wurde von der schwarzen Masse beinahe verdeckt...

 

****

Janus gesellte sich zu Rosalie in den Stall, wo alle Gäste, die mit Kutschen gekommen waren, ihre Pferde abstellten. Es war gemütlich warm, eine Öllampe erhellte die Box schwach, in der Rosalie stand. Sie hatte ihre Ohren wachsam aufgerichtet und den Kopf zu Janus geneigt. Mit Tränen in den Augen streichelte der Junge über die weichen Nüstern der Stute und klagte ihr sein Leid: „Was ist das Geheimnis von Mirka? Warum dürfen wir nicht zu unserer Mutter? Ich hab Angst, Rosa. Du hast doch auch gespürt, daß etwas Böses dort wahr?“ Rosalie schnaufte daraufhin leise, so als würde sie ihm antworten. „Warum hat dieser Flughund sie angegriffen und ihr Mal freigelegt? Was bedeutet das alles? Ich möchte Mama nicht verlieren!“ Er umarmte den Hals des Tieres und ließ seiner Verzweiflung freien Lauf. Plötzlich spürte er kalten Wind, der seine Haare durchzuwühlen schien. Er schloß die Augen und dachte daran, wie zärtlich seine Mutter ihm immer durch die Haare gefahren war. „Janus? Wo bist Du?“ Das war doch die Stimme seiner Mutter! „Komm zu mir, mein Kind. Ich habe solche Schmerzen! Befreie mich! Ich brauche Dich! Komm zu mir! Schnell!“

Janus sah erschrocken auf. Er blickte sich unsicher um. „Mutter? Wo bist Du? Was soll ich tun? Sag doch was?“ Rosalie hatte die Ohren angelegt und scharrte mit den Vorderhufen auf den Boden herum. Sie wurde unruhig. Sie wieherte leise. Janus Herz klopfte so hart gegen seine Brust, das er sich die Stelle rieb. Sein Atem ging schwer. „Was soll das? Wer bist Du? Willst Du mir Angst machen? Laß meine Mutter in Frieden! Ich hasse Dich! Warum tust Du uns das an?“ Janus wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Er fühlte, daß hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Er begann Stimmen zu hören, die gar nicht da waren. Christa lag zu Hause im Bett und dennoch hörte er ihr Flehen. Das ging nicht mit rechten Dingen zu.

Er lief rückwärts aus dem Stall heraus und wäre geradewegs gegen Bruder Martin gelaufen. „Hier steckst Du! Mirka macht sich schon Sorgen! Alles in Ordnung?“ Janus drehte sich um und umarmte den Pater: „Ich....es ist nichts, ich habe....Christas Stimme gehört, Bruder Martin. Sie rief nach mir! Es ist wahr! Doch Mutter ist doch zu Hause. Oder? Rosalie wurde nervös, sie hatte auch Angst. Was geht hier vor?“

Das freundliche Lächeln des Paters wurde zur ernsten Miene. „Janus, ich verstehe, das Du verwirrt bist. Es ist das Böse, mein Kleiner. Du mußt Dich nicht für Deine Angst schämen. Ich fürchte mich genauso davor. Doch Mirka und Martha haben sich verbündet. Du weißt, daß Deine Großmutter über gewisse Kräfte verfügt. Diese hat sie....an Mirka vererbt, sie....wird Deiner Mutter helfen, wieder gesund zu werden. Vertrau ihr und glaub an sie. Das hilft ihr. Du darfst Dich nicht sorgen, Du mußt sie mit Deiner ganzen Liebe unterstützen. Stell keine Fragen, laß einfach das geschehen, was....vorherbestimmt ist. Ich weiß, daß hört sich jetzt alles etwas verrückt an, Junge. Doch es ist nicht zu ändern. Was geschehen muß, soll eintreten. Du bist bei mir in Sicherheit, genau, wie Deine Geschwister. Ich werde Euch nach allen Kräften beschützen. Bitte glaub mir Janus! Erwähne dieses Gespräch nicht Mirka gegenüber oder irgend jemand sonst. Es bleibt unser Geheimnis, verstanden? Und jetzt feiere noch ein bißchen. In Ordnung? Laß Dir nicht anmerken was in Dir vorgeht. Versuch einfach, alles so zu nehmen, wie es kommt. Ich weiß, daß Du Angst hast, doch Du bist nicht allein damit, Janus. Wir müssen zusammenhalten. Nun geh!“ Der Pater sprach leise und beruhigend auf den verstörten Janus ein. Wolle war plötzlich neben ihm und leckte seine linke Hand. Er sah auf den Hund und ließ es geschehen. Er wollte trösten, er spürte seine Angst. Doch der Junge war völlig verstört.

Janus verstand jetzt überhaupt nichts mehr! Mirka hatte besondere Kräfte? War sie auch eine Hexe? Und warum konnte die Liebe ihrer Kinder die eigene Mutter nicht wieder gesund machen? Und warum kamen diese Stimmen? Waren sie das Böse, von dem Bruder Martin sprach? Er kannte bisher nur Kobolde und Trolle oder Irrlichter, die gefährlich für sie waren. Was gab es da denn noch? Dämonen? Geister? Janus schluckte und nickte dem Pater tapfer zu: „Ja. Ich hoffe, Du behältst recht, Bruder Martin.“ Dann lief er in Richtung Dorfmitte, wo sich mittlerweile alle um das große Feuer versammelt hatten und sangen.

****

Als der Mond seinen höchsten Stand erreicht hatte, wurde Martha langsam unruhig. Sie hatte sich mit Bruder Martin für zwei Stunden zurückgezogen, ohne, daß Mirka und ihre Geschwister davon etwas mitbekamen. Die beiden beratschlagten, was zu tun war. Die Zeit wurde langsam knapp. Martha wollte aufbrechen, doch Martin hielt sie zurück. Er übergab ihr die wertvollen Schriftrollen, die er von seinem verstorbenem Abt erhalten hatte. Vor dem Fest hatte er sie in aller Eile übersetzen können und dann nahm er auch noch seine eigenen Aufzeichnungen und gab sie ihr, in der Hoffnung, damit endlich etwas Licht ins Dunkel zu bringen: „Hier, Martha. Nimm diese Aufzeichnungen an Dich und lese sie mit Mirka zusammen gut durch. Es steht alles, was ich aus den besten Quellen erarbeitet habe, darin, was Deine Nachfolgerin wissen muß. Es liegt mir am Herzen, das sie nicht nur uns glaubt, sondern auch weiß, daß es Tradition in besonderen Familien ist, daß Auserwählte geboren werden, die gegen die Dunkelheit kämpfen.“

Nach dieser feierlichen Rede mußte sich Martha erst einmal wieder hinsetzen. Gerührt wischte sie sich ein paar Tränen von den Wangen: „Danke, Martin. Ich weiß Deine Mühen zu schätzen und denke, sie werden uns und ganz besonders Mirka, von großem Nutzen sein. Das Einzige, was gegen uns arbeitet, ist die Zeit. Mirka hat schon einige ihrer besonderen Kräfte am eigenen Leib erfahren müssen. Der....Dämon, der von Christa Besitz nahm, ist...sehr gefährlich. Wenn wir ihr nicht helfen, wird.....sie sterben. Darum ist es wichtig, Mirka so schnell, aber auch so behutsam wie es geht, mit ihren neuen Kräften und ihrer Aufgabe vertraut zu machen. Willst Du mir dabei helfen?“ Bruder Martin schluckte, doch er brauchte keine Sekunde darüber nachdenken. Er liebte Mirka mehr, als er zugeben wollte. Für ihn war sie beinahe so etwas, wie eine Tochter. Er nickte Martha zu. Sie nahm die Rollen und das Buch unter den Arm und atmete tief durch: „Dann laß uns gehen und sie vorbereiten. Nimm Dich den Kindern an. In ein paar Stunden wird es hell.“ Beim letzten Satz schwang Furcht in der Stimme der alten Frau mit. Die Kinder waren schon groß. Selbst den kleinen Tobi konnte man nicht zwingen, etwas zu tun, was er nicht wollte. Doch sie liebten Mirka und Martha und wußten, daß ihre Großmutter ihnen nur helfen wollte und sie beschützte. Wie lange konnten sie ohne ihre Mutter und Schwester auskommen, ohne Verdacht zu schöpfen, das etwas nicht stimmte? Diese Fragen verwirrten die alte Frau und hinterließen Sorgenfalten auf ihrer Stirn.

Konnte sie ihre ganze Kraft auf ihre Enkelin konzentrieren? Sie war alt und ihr Körper machte nicht mehr recht mit. Und ihre Seele? Ihr Wille war stark. Sie mußten diesen Dämon austreiben. Selbst wenn es ihr eigenes Leben kostete. Mirka mußte ihre Aufgabe erfüllen. Es war ihr Schicksal. Es war ihr Erbe. Für immer. Nur, konnte Mirka das begreifen? Martha seufzte schwer.

Der Benediktiner klopfte Martha beruhigend auf die Schulter. Er lächelte sie ermunternd an. Nur konnte Martha Kolt das Lächeln nicht erwidern. Jetzt wurde es wirklich ernst....

 

****

Die alte Dame und Bruder Martin gingen in die Mitte des Dorfplatzes, wo sich viele versammelten, um das große Feuer in der Mitte zu genießen. Auch Mirka saß mit Wolle und ihrer jüngeren Schwester dort und sie unterhielten sich. Als Mirka ihre Großmutter mit Bruder Martin erblickte, stand sie auf und wollte zu ihnen laufen. Janus und Tobi kamen hinter Bruder Martin her. Sie machten ernste Gesichter. Tobi hatte sogar gerötete Augen. Er hat geweint! Auch Rabea sah ihren kleinen Bruder besorgt an: „Mirka, was ist los? Tobi hat geweint! Stimmt was nicht mit Mutter?“ Mirka schluckte: „Ich weiß es nicht, Bea. Wir werden es gleich wissen.

Bruder Martin lächelte verhalten, doch es erstarb, als er die sorgenvollen Gesichter von Rabea und Mirka sah. Er flüsterte Martha zu: „Sie sind unruhig. Wir müssen es behutsam angehen. Ich nehme die drei Kinder mit. Du kümmerst Dich um Mirka. Geht zum Kolthof zurück.“ Schlug Bruder Martin vor. Martha nickte. Sie konzentrierte sich und wählte gedanklich die Worte aus, die sie Mirka mitteilen mußte. Es fiel ihr mehr als schwer. Ihr Herz schlug so schnell und laut gegen ihre Brust, das sie Angst hatte, Mirka könne es hören.

Bruder Martin rief Rabea, Tobi und Janus zu sich. Ohne zu fragen gingen sie zu ihm. Er nahm die Mädchen in die Arme und Tobi auf dem Arm. Während er ihnen erklärte, was Mirka mit Großmutter zu bereden hatte, ging er mit ihnen in Richtung seines Hauses. Rabea sah sich nach Mirka um. Mirka beachtete sie nicht, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit Martha: „Was ist los, Martha? Was hast Du da unter dem Arm? Ist es wichtig? Du siehst so ernst aus.“ Martha sah ihrer Enkelin in die Augen: „Es geht um Dein Erbe, meine Kleine. Wenn Du Christa liebst und ihr helfen willst, mußt Du jetzt sehr tapfer sein. Wir haben nur noch ein paar Stunden, bis die Sonne aufgeht. Diese Aufzeichnungen sind von Martin. Er hat sie seit Deiner Geburt sorgfältig aufgeschrieben und auch weitere Aufzeichnung über das Schicksal von uns Seelenjägern gesammelt. Du solltest es erst wissen, wenn Du volljährig bist, doch die Umstände verlangen von uns, daß Du jetzt schon mit Deiner Aufgabe vertraut gemacht wirst. Mein Kind, laß uns nach Hause gehen, ja? Ich werde Dir unterwegs alles erklären. Bist Du dazu imstande?“

Martha sah sie immer noch ernst an. Mirka liefen die Tränen über die Wangen: „Großmutter, ich will alles tun, damit der Dämon Mutter wieder freigibt! Und wenn es Schicksal ist, wie Du es nennst, daß ich Dein Erbe antrete, werde ich mich ihm fügen müssen. Habe ich eine Wahl?“ Mirka wischte sich mit zitternden Händen die Tränen aus dem Gesicht. Martha schüttelte den Kopf: „Nein, meine Kleine. Es ist Deine Bestimmung. Dann laß uns gehen. Die Zeit arbeitet gegen uns.“ Mirka nickte ernst. Sie hakte sich bei Großmutter unter und sie gingen zu dem Stall, wo Rosalie auf sie wartete.

Wolle trottete treu neben den beiden her. Mirka hockte sich zu ihm hinunter und bat den Hund, zu Bruder Martins Haus zu laufen, um auf die Kinder aufzupassen. Der Hund winselte und weigerte sich erst, doch mit Marthas weiterer Aufforderung, die sehr energisch war, lief er hinter Bruder Martin und den Kindern her...

Der Hund würde bei der Dämonenbeschwörung nur stören, da er vor Angst laut bellen könnte und den Dämon somit aggressiver machte. Das wollte Martha auf jeden Fall vermeiden. Es würde ein harter Kampf werden. Sie hatte Angst, davor, daß sie Mirka verlor oder das sie starb, bevor Mirka wußte, was mit ihr los war. Doch das waren ihre geringsten Sorgen.

Wichtig war nun erst einmal, daß Mirka in den Aufzeichnungen das fand, was ihren Wissensdurst löschte....

Sie fanden die Stute bereits gesattelt und frisch gestärkt im Stall vor. Bruder Martin hatte das veranlaßt. Mirka bat Martha aufzusitzen. Martha protestierte, doch es war keine Zeit für Diskussionen.

Mirka nahm die Zügel in die Hand und lief neben Rosalie her. Rosalie sträubte sich, in dem sie bockte. Etwas stimmte nicht. Sie hatte Angst. Erst als Mirka auch im Sattel saß und ihre Großmutter sich an ihr festhielt, ritten sie so schnell es eben ging zum Kolthof zurück....

****

Als sie die erleuchtete Silhouette des Hofes sahen, waren über dem Haus lauter kleine, runde, gelbe Lichter, die hin und her flogen. Immer schneller, je näher sie kamen. Eine große, bläuliche Kugel kam direkt auf sie zu. Rosalie schnaufte und wieherte, bockte aber nicht. Mirka staunte mit offenem Mund: „Das ist ja wunderschön! Was ist das, Martha?“ Martha umfaßte Mirkas Hände fest: „Das, mein Kind, ist die Elfenkönigin mit ihrem Volk. Sie will uns beistehen. Sie hat mich aufgesucht und mir geschildert, das in ihrem Wald auch etwas vorgeht. Sie beschützen uns. Egal was kommt.“ Mirka sah auf die blaue Lichtkugel und einige andere, kleinere gelbe Kugeln, die um sie herumtanzten. Mirka konnte nicht glauben, was ihre Großmutter da sagte: „Elfen? Aber die gibt es doch nur im Märchen! Ich meine Trolle, o.k. Irrlichter, na schön. Aber Elfen? Was können sie schon tun?“ In diesem Moment verwandelte sich die blaue Kugel vor Mirka in die Elfenkönigin. Mirka erschrak, als sie die kleine Person mit den Flügeln vor sich hin und herflattern sah: „Mirka, ich weiß, es kommt alles auf einmal und Du bist noch nicht ganz so weit. Doch Deine Großmutter hat recht. Glaub ihr. Wir haben, während ihr im Dorf wart, auf Christa aufgepaßt. Es geht ihr sehr schlecht. Der Dämon gewinnt mehr und mehr die Oberhand. Kommt schnell!“

Kaum hatte die Elfe das ausgesprochen, verwandelte sie sich auch schon wieder zurück. Sie flog mit ihren Dienern, die ihr in einer Reihe folgten, zu dem Schlafzimmerfenster, wo Christa lag. Mirka gab Rosalie die Sporen.

Am Tor angekommen, saßen die beiden Frauen ab und banden Rosalie am Zaun fest. Mirka wollte Rosalie in den Stall bringen, doch Martha riet ihr ab: „Jede Sekunde zählt jetzt, Mirka. Rosalie ist hier ohnehin in Sicherheit. Wenn sie in der Nähe des Hauses bleibt, wird sie vor Angst verrückt.“

Immer mehr gelbe Lichter versammelten sich um das Haus. Der dunkle Himmel war fast hell durch die vielen Elfen. Mirka staunte immer noch Löcher in die Luft. Nur mühsam ließ sie sich von ihrer Großmutter ins Haus ziehen. Gerade, als die durch die Tür kamen, erkannte Mirka sofort, daß die Realität sie wieder eingeholt hatte. Es war eiskalt im Haus.

Sie atmeten eisige Luft aus. Mirka hielt sich fröstelnd die Arme vor die Brust: „Oma! Was ist hier los? Warum ist es so kalt? Ich habe Angst! Warum tut er ihr das an?“ Ihr Herz klopfte schneller. Martha ging schnell ins Wohnzimmer um Decken zu holen. Sie legte eine Schafsdecke um Mirkas Schultern. Sich selbst gönnte sie eine einfache Wolldecke. Ihr Atem ging ebenfalls schwer. Sie verlor an Energie. Doch sie durfte sich nichts anmerken lassen: „Mirka, ich kann Dir nicht so viel erklären. Bitte geh in Dein Zimmer und lies die Unterlagen von Bruder Martin sorgfältig durch. Beeil Dich. Wenn Du Fragen hast, ich bin bei Deiner Mutter. Der Kreis um sie herum schützt uns vor dem Ding in ihr. Erschreck nicht, wenn Du siehst, was dieses....Ungeheuer aus ihr gemacht hat. Wenn sie spricht, ist es nicht sie, die spricht, in Ordnung. Er spricht durch sie. Vergiß das nicht. Er lügt Dir was vor, will Dich verletzten. Denk immer daran. Und jetzt tu, was ich Dir sage! Wenn Du Christa liebst, kannst Du sie retten. Auch wenn Du Angst hast und noch nicht alles begreifst, ich versteh Dich ja, Liebes. Doch....vertraue mir und denk an die Macht, die Du besitzt. Du kannst es. Du weißt, wozu Du fähig bist. Auch ich verliere an Kraft, je mehr Du an Kraft gewinnst. Ich teile meine letzten Reserven mit Dir. Bitte geht jetzt, Mirka. Es wird in ein paar Stunden hell. Wenn wir den Dämon bis dahin nicht verjagt haben.....ist es zu spät.“

Mirka liefen die Tränen über die Wangen. Auf halbem Weg zu ihrem Kinn erstarrten sie zu Eis. Sie faßte sich an die Wangen und nahm die glitzernden, erstarrten Wassertropfen von ihrem Gesicht. Sie schluckte. Dann hörte sie das schmerzhafte Stöhnen ihrer Mutter. Ihr Blick fiel auf Martha. Ihre Großmutter schaute traurig zu Boden. Mirka nahm das Buch und die Schriftrollen wortlos von ihrer Oma entgegen, ging ins Wohnzimmer und zündete zwei Kerzen, die auf den Tisch standen an und begann zu lesen. Ihre Hände zitterten. Sie hatte Durst, doch sie mußte verzichten. Sie wollte Christa auf keinen Fall verlieren. Die Worte ihrer Großmutter waren eindeutig. Jetzt begriff sie erst, wie wichtig es war, das zu tun, wofür sie bestimmt war. Sie schlug die erste Seite des Buches auf und begann zu lesen....

 

Je mehr sie sich in die alten, gelben, zerfledderten Seiten des Buches und der Schriften vertiefte, um so mehr staunte Mirka. „Die Chronik der Seelenjäger“ und „Die Auserwählten“ beschrieb das Schicksal kinderreicher Familien, deren erstgeborene Kinder, egal ob Junge oder Mädchen mit einem Mal auf einer Schulter geboren wurden. Instinktiv griff sie sich an ihr eigenes Zeichen, während sie las.

Sie wurden von Hohen Geistern dazu bestimmt, durch ihre eigene Kraft, ihre Güte und ihre reine Seele, das Böse in der Welt zu bekämpfen. Nur, wer sein Kind mit völliger Hingabe erzog und das Geheimnis bis zur Volljährigkeit bewahrte, wurde von ihnen gerufen, wenn die Zeit gekommen war. Auch besondere Umstände, wenn ein Familienmitglied von Trollen, Kobolden, Gnomen, bösen Zauberern gefangen genommen oder von Dämonen in Besitz genommen wurden, ließen es zu, daß die Kinder ab diesem Zeitpunkt mit ihrem Schicksal konfrontiert werden mußten.

Mirka liefen Tränen übers Gesicht. Als die die Hälfte der Schriften und des Buches durch  hatte, wurde sie müde und vor ihren Augen verschwamm alles. Sie schreckte hoch, als die Tür aufging. Es war Martha. Sie sah besorgt aus. Und blaß. Auch sie hatte nasse Wangen von Tränen: „Wie geht es Mama? Und Dir?“ Martha setzte sich zu ihrer Enkelin. Anstatt die Frage zu beantworten, sah sie Mirka ernst an: „Glaubst Du mir jetzt? Verstehst Du jetzt, mein Kind? Deine Mutter wußte es in ihrem Herzen, doch sie wollte es nicht wahrhaben. Sie wußte, daß ich erwählt war, doch sie glaubte nicht daran. Das bezahlt sie jetzt. Der Dämon wird immer stärker. Wenn wir nachher zu ihr gehen, mußt Du sehr stark sein, Liebes. Deine Mutter ist....gealtert.“ Mirka erhob sich erschrocken: „Was sagst Du da? Oh, mein Gott! Wir müssen zu ihr, jetzt gleich!“ Sie wollte zu ihr gehen, doch ihre Großmutter packte sie an der Hüfte und hielt sie eisern fest: „Nein, noch nicht, Mirka! Du weißt noch nicht alles. Die Elfen beschäftigen den Dämon, verwirren ihn. Christa schläft. Sie ist so schwach, sie ist kaum noch da. Er nahm ihre Lebensenergie. Je mehr Macht er gewinnt, um so schwächer wird Christa. Bitte, sei jetzt vernünftig und hör mir zu. Bruder Martin kommt gleich. Er wird uns helfen. Wir wollen nur Dein Bestes, mein Kind! Doch wir müssen einen klaren Kopf bewahren. Die hohen Herren sind hier. Ich spüre sie. Sie werden Dich bald rufen. Vertrau mir. Les weiter. Bitte. Nur noch eine Stunde. Dann bist Du soweit. Ich weiß, Du bist wütend. Darauf hast Du auch ein Recht. Doch wenn Du uns allen helfen willst, schalte Dein Vertand aus und lasse Dein Herz sprechen. Du schadest Deiner Mutter nur, wenn Du nicht weißt, wie Du die Sache angehst. Ich...mir geht es nicht gut. Ich weiß nicht, ob...ich das hier überstehe. Meine Zeit ist...abgelaufen. Ich....muß mich ausruhen. Ich übertrage Dir meine letzten Reserven. Damit Du stark genug bist, falls...etwas schiefgeht.“ Sie senkte den Kopf.

Mirkas Herz klopfte schnell. Ihr Atem ging schnell. Sie riß sich los. Ohne ihre Oma eines Blickes zu würdigen, setzte sie sich wieder hin und beugte sich über die Schriften. Ihre Großmutter erhob sich und ging in die Küche: „Wir brauchen eine Mahlzeit. Wir müssen uns stärken. Ich mach etwas zu essen.“ Sagte sie, ohne sich zu ihrer Enkelin umzudrehen. Mirka hörte ihre Mutter von oben rufen und stöhnen. Sie hielt sich die Ohren zu. Das war nicht mehr ihre Mutter. Ihre Glieder wurden schwer. Als sie einige Elfen am Fenster sah, faßte sie neuen Mut. Sie stellte neue Kerzen hin, als die anderen abgebrannt waren und las weiter. Unter anderem fand sie diese Stelle: Kinder, die reinen Herzens sind, angstlos, ihre Familie mehr beschützen, als an sich zu denken, werden schon von Geburt an damit konfrontiert, die Welt vor dem Dunklen zu bewahren. Sie werden in jungen Jahren ihr Elternhaus verlassen und den Hohen Herren folgen, die sie völlig in ihr neues Leben einweisen. Der Verlust der Familie, Freunde und völlige Aufgabe des alten Lebens ist die einzige Möglichkeit, als Seelenjäger(in) seiner Bestimmung zu folgen. Nur wer sich mit totaler Hingabe seiner Aufgabe widmet, kann überleben. Wer Angst vor der Unsterblichkeit hat, die er damit erlangt, kann jederzeit durch das Böse besiegt werden. Die Hohen Herren können entscheiden, ob die Seelenjäger wieder freiwillig zurückkehren in ihre alte Welt und für immer alleine bleiben oder ob sie sich in einem Kampf mit dem Bösen auf Leben und Tod einlassen. Wenn die böse Seite gewinnt und die Seelenjäger für sich gewinnen, können die Hohen Herren nichts mehr für sie tun. Jeder Seelenjäger agiert für sich. Keiner weiß von einem anderen. Jeder hat seine eigene Mission. Er wird im Kampf ausgebildet, mit gewissen Kräften ausgestattet und in die Magielehre eingeweiht....

Mirka mußte den Kloß im Hals hinunter schlucken. Sie muß für ihre Bestimmung die Familie zurücklassen und vergessen. Sie müssen in dem Glauben sein, daß Mirka.....nein. Das ist ja schlimm. Wie kann sie darüber entscheiden? Sie wollte ihre Familie nicht im Stich lassen! Sie wurde geliebt und sie liebte ihre Familie! Doch hatte sie eine Wahl? Plötzlich, als Martha mit einem Tablett voller Leckereien ins Wohnzimmer kam, spürte Mirka einen Luftzug. Die Fenster waren geschlossen. Warmer Wind breitete sich in dem Raum aus.

Ihre Haare wehten durch die Luft. Sie schloß die Augen. Martha stellte das Tablett ab. Auch sie bemerkte die Veränderung sofort: „Martha, was ist das? Was geht hier vor?“ flüsterte Mirka. Sie schloß die Augen. Der Wind streichelte sie sanft. Ihr Gesicht, ihre Haare. Ihr wurde warm. Marthas Stimme war ganz weit weg: „Sie rufen Dich, mein Kind. Es ist Zeit. Laß alles auf Dich zukommen. Hab keine Angst. Dir passiert nichts. Du wirst jetzt in eine andere Welt geholt. Es kommt Dir vor wie ein Traum, doch Du wirst verstehen. Ich liebe Dich. Christa glaubt an Dich. Sie liebt Dich auch. Genauso wie Deine Geschwister. Und Wolle. Und Rosalie. Wir alle wissen, was für ein guter Mensch Du bist.“ Dann spürte sie eine schwere Hand auf ihrer linken Schulter: „Ich liebe Dich auch, Mirka. Du bist für mich wie eine Tochter. Ich glaube an Dich. Du wirst es schaffen. Ich bin für Dich da.“ Sie sah Bruder Martin ins Gesicht.

Dann schloß sie die Augen. Sie fühlte sich so leicht. Als würde sie schweben. Sie sah gelbe Punkte vor sich. Die Elfen flatterten an ihre Ohren: „Keine Angst, Mirka. Alles wird gut. Du wirst jetzt geprüft. Du kehrst als Seelenjägerin zurück. Viel Glück. Christa geht es soweit gut. Sie ist in Trance. Wir warten auf Dich.“ hörte sie die kleinen, piepsiegen Stimmen wild durcheinander an ihren Ohren.

Sie konnte nicht antworten. Ihre Zunge fühlte sich wie Blei an. Sie sah einen großen Farbenstrudel in den sie hineintauchte. Sie hatte keine Angst. Sie ließ sich treiben. Sie schwebte. Sie sah viele Farben in allen Fascetten auf sich zukommen. Wie ein Strom flog sie an ihnen vorbei. Ihr wurde schwindelig. Dann schlug sie plötzlich hart auf den Boden auf. Sie verlor ihr Bewußtsein.....

****

 

 

2. Die Prüfung

 

 

Mirka erwachte langsam. Sie fühlte jeden Knochen einzeln. Als sie blinzelte, war alles dunkel. Der Boden war kalt. Sie erhob sich vorsichtig, setzte sich auf. Sie war in einer riesigen Höhle. Sie fröstelte. Es war still. Sie sah sich um. Fackeln erhellten einen Weg. Ohne ein Wort stand sie auf und ging den Weg, der ihr Schicksal bestimmen sollte. Sie war in einer anderen Welt, so glaubte sie. In den schwarz-grauen Felswänden waren kleine Löcher. Aus diesen Löchern beobachteten sie viele Augenpaare, die gelb funkelten.

Sie blickte sich nach links und rechts um. Treppen waren in den Fels geschlagen, als sie am Ende des Weges angelangt war. Sie stieg einen schmalen, geschlängelten Gang hinauf, der immer verschlungener wurde. Immer höher. Sie sah nicht nach unten, sonst verlor sie das Gleichgewicht. Sie sah an sich hinunter. Sie trug ihr weißes, langes Nachthemd.

Sie sah sich nicht um, obwohl sie Flüstern und merkwürdige Geräusche wie Rascheln und Donnergrollen hinter sich, über sich, neben sich und vor sich vernahm. Fledermäuse flogen hoch über ihren Kopf. Es waren unterschiedlich große. Und es waren viele. Unendlich viele. Doch sie griffen Mirka nicht an....

 

****

Sie wußte nicht, wie lange sie gegangen war. Sie spürte die ganze Zeit jemand hinter sich, doch sie wagte es nicht, stehen zu bleiben oder sich umzudrehen. Dann ging es plötzlich nicht mehr weiter. Mitten in der Luft hing die letzte Stufe. Sie sah ins Dunkel. Ihr Herz klopfte. Als sie zum sprechen ansetzten wollte, grollte ihr eine tiefe, leise Stimme direkt vor ihr entgegen: „Bist Du eine Auserwählte?“ Mirka schluckte. Ohne nachzudenken, ob das Konsequenzen für sie hatte, sagte sie fest: „Ich bin Mirka Sanje Kolt. Ich trage ein Mal auf meiner Schulter.“ Sie drehte sich etwas und schob das den Ärmel soweit beiseite, das ihr Mal zu sehen war. Auf einmal glühten rötliche Augen vor Mirka auf. Sie erschrak und wich zurück, sie fiel zwei, drei Treppenstufen hinunter.

„Keine Angst, Soulhunter. Es geschieht Dir nichts. Komm zu mir. Ich bringe Dich zu den Hohen Herren.“ Mirka wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht. Sie stand langsam wieder auf und ging zur letzten Stufe.

Auf einmal sah sie einen alten Mönch vor sich. Er trug eine rote Kutte, aus wunderschönem Samt. Seine Hände waren bandagiert. Einzig seine langen Fingernägel, schwarze, krumme, kleine Krallen, waren zu sehen. Man konnte sein Gesicht nicht erkennen. Dort wo es sein sollte, war nur Schwärze. Er saß an einem hölzernen Schreibtisch und hatte ein Buch vor sich. Mit einer Gänsefeder schrieb er Mirkas vollständigen Namen auf. Dann stellte er eine Frage, die Mirkas Körper verkrampfen ließ. „Welches Mitglied Deiner Familie ist besessen?“ Sie ballte die Fäuste zusammen. Tapfer sagte sie: „Meine Mutter.“ Der Mönch notierte es. Dann fragte er weiter: „Weißt Du den Namen des Dämons?“ Mirka überlegte krampfhaft. Sie schloß die Augen und hörte die Stimme von Martha, ganz weit weg, rufen: Schattendämon. Sie nannte den Namen. Der Mönch schrieb das ebenso nieder. Dann klappte er das große, zerfledderte Buch zu, legte die Schreibfeder beiseite, hob den Kopf und dann stand er auf. Er war riesig. Mirka mußte den Kopf recken, um zu ihm hochzublicken.

„Die Hohen Herren erwarten Dich. Nimm meine Hand.“ Sie sah eine der bandagierten Hände vor sich, die fast so groß war, wie sie selbst. Sie legte ihre kleine, weiße, zittrige Hand in die des Mönches. Er umschloß sie und dann flog Mirka plötzlich von der letzten Treppenstufe fort. Sie flog an vielen Farben vorbei, die an ihr vorbeizogen, so als würde sie in eine völlig andere Dimension hinüber gleiten.

Ihr wurde schwindelig. Sie schloß die Augen und genoß das Kitzeln im Bauch. Dann sah sie ihre kranke Mutter wieder vor sich. Sie war nur noch aus Haut und Knochen. Ihre Augen glühten grünlich. „Neeeeeein, Mama!“ rief sie verzweifelt. Ihre Stimme vervielfachte sich und sie hielt sich die Ohren zu.

Dann landete sie erneut unsanft auf dem Boden der Tatsachen zurück. Sie befand sich in einer anderen Höhle. Es war bitterkalt. Überall glänzte und funkelte es. Von der Decke tropfte es. Sie sah hoch und erblickte dicke und dünne, lange und kurze Eiszapfen. Mirka mußte ihre Hände vom Boden losreißen, so fest waren sie gefroren.

Sie erhob sich und schlang die Arme um den Oberkörper. „Hallo?“ Ihre Stimme klang heiser. Einzig die Wassertropfen waren zu hören, die auf den Boden fielen. „Hohe Herren? Ich bin Mirka, ich bin da!“ Keine Antwort. Sie blickte sich um. Wunderschöne Gebilde aus Eis standen überall. Ein übergroßes Pferd. Eine Meerjungfrau war aus einer Wand gehauen worden. Ein...Troll, mindestens 4 Meter groß, ein Bergtroll. Mirka schauderte, als sie an ihre heimischen Trolle daheim dachte.

Sie ging einfach gerade aus. Sie erblickte eine Eisprinzessen vor sich. Ihre Augen waren aus Stein. Sie sah so lebensecht aus. Als Mirka ihr länger ins Gesicht schaute, dachte sie einen Augenblick lang, sie würde angesehen werden. Schnell lief sie weiter. Diesmal drehte sie sich um.

Sie erschrak. Alle Figuren, die sie bestaunt hatte, waren direkt hinter ihr. War das eine Prüfung? Oder träumte sie? Sie rieb sich die Augen? Sollte sie Angst bekommen? Waren die Gebilde verhext? Waren sie lebendig? Mirka blickte auf die Meerjungfrau. Sie liebte Nixengeschichten, doch gesehen hatte sie noch nie so ein Wesen. Bis auf diese, in Eis festgehalten. Sie ging zu ihr hin. Der lange, große Fischschwanz war um den Körper der Nixe geschwungen. Ihre langen Haare gingen bis auf den Boden.

Mirka berührte vorsichtig die Schwanzflosse der Meerjungfrau. Dann, so als erwarte sie eine Bewegung, zuckte sie sofort wieder zurück. Sie ging ein Stück rückwärts und beobachtete das Eisgebilde genau. Nichts geschah.

Sie ging zu dem Pferd. Sie berührte seine lange Mähne. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie fand im Eis gehauene Vorsprünge und kam dadurch in die Nähe des Rückens. Sie stieg vorsichtig auf die glitschigen Eisfelsen und versuchte, sich an der Seite des Eispferdes hochzuziehen. Natürlich rutschte sie immer wieder ab, doch sie gab nicht auf. Sie zog die Ärmel ihres Nachthemdes über die Hände und stemmte sich hoch. Sie zog den Körper nach und...saß! Ihre Beine paßten nicht ganz über den gewaltigen Rücken hinüber, doch das störte Mirka wenig. Sie mußte an Rosalie denken.

Sie sah nach oben. Ein paar Eiszapfen wackelten über ihr. Sie mußte schlucken. Wenn die sich lösen, dann....wie auf ein Stichwort hörte sie das Eis knacken. Kleine Flocken fielen auf ihr Gesicht. Panik ergriff sie. Das hätte ich lieber nicht denken sollen. Sie hörte es weiter knacken, dann brach das Eis!

Ein riesiger Zapfen landete direkt neben dem Kopf des Eispferdes. Mirka duckte sich. Sie bekam Angst. Es war anscheinend wirklich eine Prüfung. Sie blickte erneut nach oben, wo jetzt ein großes schwarzes Loch klaffte. Wind kam auf. Doch er war nicht eisig. Er war warm.

Mirka schlang die Arme so weit sie konnte um den Hals des Eispferdes. Sie wünschte sich fest, das es sie zu den Hohen Herren bringen würde. Kaum hatte sie zu ende gedacht, bewegte sich das Eis unter ihr. Das ganze Pferd begann zu zittern! Sie rutschte nach allen Seiten und wußte nicht, wie sie oben bleiben könnte, doch auf einmal hatte Mirka Zügel in den Händen!

Und das Pferd war gar nicht mehr aus Eis, es war...“Rosalie! Wie kommst Du denn hierher?“ freute sich Mirka. Sie umarmte ihre Stute. Sie glaubte nicht, das sie auf ihrer Stute saß. Rosalie hatte die Ohren angelegt und schnaufte. „Wenn das kein Traum ist, dann...wenn Du weißt, wo die Hohen Herren sind....bringe mich zu ihnen, Rosalie. Bist Du verzaubert? Das kann ich nicht glauben!“

Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Als Rosalie im Schritt aus der Höhle ging, sah Mirka sich noch einmal um. Das Eispferd stand dort, genauso wie der Riesen-Troll und die Meerjungfrau. Sie waren nicht mehr aus Eis, sie waren lebendig. Das Eispferd war ein schwarzer Rappe, sich aufbäumend stand er auf den Hinterbeinen und wieherte. Der Troll, die Eisprinzessin und die Meerjungfrau winkten Mirka lächelnd zu. Sie lächelte auch und winkte zurück. Als sie sich erneut umdrehte, waren die Gebilde verschwunden. Da waren nichts weiter als Eisbrocken zu sehen. Eine Illusion? Mirka dachte nicht weiter darüber nach und konzentrierte sich auf ihre Stute. Sie begann, in einem leichten Trab zu laufen.

 

Dann wurde Rosalie schneller. Plötzlich fanden sie sich draußen wieder. Sie ritten über eine lange, hölzerne Brücke, die unter Rosalies Galopp stark zu schwanken schien. Als Mirka hinuntersah, war da nur Felsen. Und Wasser. Es war immer noch dunkel. Sie erblickte einen großen, silbrigen Mond vor sich. Sie hielt sich an Rosalies Mähne fest.

Sie war erschöpft. Wo war sie nur? Und wieviel Zeit war vergangen? Wie erging es Großmutter und Christa? Was war, wenn sie zu spät zurück kam? Wie lange würden sie noch brauchen, um die Hohen Herren zu treffen? War das ihre Bestimmung? Sie wußte es nicht. Sie mußte sich in ihr Schicksal fügen.

Rosalie ritt erneut in eine Höhle, sie war aus rotem Sandstein. Vor dem Eingang blieb sie stehen. Sie stieg vom Rücken ihrer treuen Stute. „Finde ich hier die Hohen Herren? Oder muß ich mich schon wieder irgendwem stellen?“ sagte sie zu dem Tier, als erwarte sie eine Antwort. Rosalie wieherte einmal und hob und senkte den Kopf und scharrte mit den Vorderhufen. „Bedeutet das Ja, Rosalie? Bin ich am Ziel?“ Sie sah der Stute in die Augen. Sie blickten Mirka aus tiefster Treue an. Auf einmal hörte sie hinter sich ein gefährliches Brummen. Ehe sich Mirka umdrehen konnte, um Rosalie festzuhalten, bockte diese, scheute, stellte sich auf die Hinterbeine und wieherte panisch. Mirka fiel auf den Rücken und versuchte vergebens, das Tier zu beruhigen. Rosalie lief davon.

Das Brummen kam immer näher, es wurde lauter, bedrohlicher. Mirka war kaum auf den Beinen, sie blickte sich nach allen Seiten um und stand gerade mit dem Rücken zum Höhleneingang, da wurde sie am Kragen gebackt und hineingezogen. Sie ließ sich von dem Etwas mitziehen, ihre Füße schleiften auf dem Boden: „He, laß mich los. Ich kann schon alleine laufen!“ protestierte Mirka und zog an der Hand in ihrem Nacken, der eisern den Kragen ihres Nachthemdes festhielt. Als sie merkte, das die Hand beharrt war, schrie sie kurz auf. Das störte denjenigen und er fauchte Mirka an: „Sei still, oder willst Du, das es uns kriegt? Du weißt ja nicht, mit wem wir es zutun haben, Kind.“ Mirka wunderte sich über die rauhe, dunkle, aber beruhigende Stimme des Etwas.

Dann ließ er sie plötzlich los. „So. Wir sind in Sicherheit. Von hier aus kannst Du alleine weiter. Und dreh Dich nicht um. Es ist nicht mehr weit. Viel Glück, Kind.“ Sie blickte sich um, sah aber niemanden. Auf einmal stupste sie eine kalte Nase an. Sie blickte vor sich und sah einen schneeweißen Wolf vor sich. Seine Augen blickten ihr direkt ins Gesicht. Sie glitzerten orange. „Erschreck nicht. Ich bin ein Werwolf. Hier wirst Du noch auf viele Monster treffen. Die meisten sehen zwar schön aus, sind aber böse. Bei mir ist es ausnahmsweise mal umgekehrt. Ich bin zwar ein Monster, töte aber niemanden. Nun geh. Die Zeit läuft, wie Du weißt. Geh diesen Weg und dann bist Du bei den Hohen Herren. Wenn Du wieder zurückgehst, bist Du eine von uns.“  

Hörte Mirka seine Stimme in ihrem Kopf. Er sprach in Gedanken zu ihr. Bevor Mirka etwas erwidern konnte, drehte das Tier sich um und verschwand in der Höhle. „Warte, Wolf! Wie meinst Du das, ich bin dann eine von Euch?“ Der Wolf blieb stehen, drehte sich aber nicht zu ihr um: Du bist eine Auserwählte, weißt Du nicht mehr? Du wirst eine Seelenjägerin. Ich will Dir nichts verraten. Du wirst es verstehen, wenn Die Hohen Herren zu Dir sprechen. Jetzt geh. Mirka wurde schlagartig klar, worauf der Werwolf hinauswollte.

Sie war hier, um sich von den Hohen Herren zur Seelenjägerin ausbilden zu lassen. Sie mußte Prüfungen bestehen, ihre Ängste überwinden, Mut beweisen. Doch ihre bisher gewonnenen Kräfte hatte sie nur vage genutzt. Wer dieses Es wohl gewesen sein mag, vor dem der Werwolf sie gerettet hatte? Sie mochte lieber nicht darüber nachdenken. Entschlossen, es zu Ende zu bringen, ging sie tapfer in die Höhle hinein.....

 

****

Kaum war die zukünftige Seelenjägerin durch den Eingang gegangen, hörte sie hinter sich einen dumpfen Knall. Sie drehte sich um und sah mit Entsetzen, das sich ein Fels vor dem Eingang geschoben hatte. Wie von Geisterhand. Doch Mirka wollte endlich Klarheit. Wie die Hohen Herren wohl aussahen?

Sie ging weiter hinein. Hohe, glatte Wände, worin kleine Fenster geschlagen waren, ließen Mirkas Mund offen stehen. Je weiter sie in die Höhle hineinkam, um so enger wurde der Gang. Plötzlich stand sie vor einer Wand. Es ging nicht weiter. Sie spürte einen Blick hinter sich, der auf ihr ruhte: „Dreh Dich nicht um, mein Mädchen. Ich bin kein schöner Anblick.“ Mirka mußte schlucken. Die Stimme kam ihr allzu bekannt vor.

Es war die ihres verstorbenen Vaters! Mirka blieb immer noch stehen. Jetzt hörte sie Schritte hinter sich. Er kam näher. „Papa? Was....machst Du hier? Ist das....wieder eine Prüfung? Wie komme ich weiter?“ Eine Hand legte sich auf ihre rechte Schulter. Mirka war verführt, auf sie zu schielen, doch ihr Blick war tapfer auf die Wand gerichtet.

 

„Lege beide Hände auf die Wand. Schließ die Augen und konzentriere Dich. Es ist nicht mehr viel Zeit. Hilf Christa, mein Mädchen. Sie erwarten Dich. Tu, was sie Dir sagen, hörst Du? Auch wenn Du Opfer bringen mußt. Es ist das Beste so. Ich bin stolz auf Dich. Ich liebe Dich. Ich vermisse Euch.“ Die Hand entfernte sich wieder. Wie gern hätte sie ihren Vater gesehen, ihn festgehalten.

Sie schloß die Augen und konzentrierte sich. Sie wollte, das die Wand verschwindet. Nach einer Weile öffnete sie ihre Augen wieder. Erstaunt stellte sie fest, daß sie jetzt wieder woanders war. Sie befand sich in einem großen Saal, der ganz aus Kristall war. Ein Tisch, so groß wie Mirka selbst und so ellenlang, wie man es sich nicht vorstellen vermochte, stand vor ihr. Davor befand sich ein normaler Stuhl, ebenfalls aus gelblich schimmernden Kristall. Sie setzte sich darauf. Und wartete. War die Reise hier zu Ende?

War das ein erneutes Testen ihrer Kräfte? Sie spürte, wie müde sie wurde. Und sie hatte Durst. Mit einem Mal vernahm sie von allen Seiten Stimmengewirr. „Hallo? Zeigt Euch! Ich bin Mirka! Ich bin hier! Meine Mutter wird sterben, wenn Ihr mir nicht...“ weiter kam sie nicht, denn eine dunkle, ernste Stimme unterbrach sie: „Wir wissen, wer Du bist und wer Du sein wirst. Du bist sehr stark, Mirka Kolt. Wir wissen, was Deine Mutter durchmacht und wollen Dich sofort einweisen. Es tut uns leid, daß Du und Deine Familie so leiden müssen, doch es ist die beste Prüfung, um eine Seelenjägerin, deren Leben dazu bestimmt ist, das Böse von den Menschen fernzuhalten, vorzubereiten. Deine Großmutter wird immer schwächer, Du wirst immer stärker. Stärke Dich nun, denn wir haben viel zu tun. Wenn Du wieder zurück in Deine Welt kommst, wird Dir alles vorkommen, wie ein Traum. Du wirst Deine nötige Macht erhalten, wenn die Zeit gekommen ist. Hast Du noch irgendwelche Fragen?“

Stille. Mirka sah auf dem riesigen Tisch vor sich lauter Leckereien, ganz irdische Speisen. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen beim Anblick von Schweinebraten, Milch, Tee, Wasser, Obst, Gemüse...Sie wollte sofort zugreifen, als die Stimme sie erneut ermahnte: „Mirka!“ Die junge Frau zuckte mit der Hand zurück und besann sich: „Wo bin ich hier? Warum ist mein Vater hier? Wie...seht Ihr aus?“

Die Stimme meldete sich nach ein paar Minuten: „Du bist im Reich der Hohen Geister, wir sind die Herrscher dieses Reiches. Wir bilden Sterbliche, die auserwählt wurden, zu unsterblichen Kriegern aus. Sie kämpfen meist für das Gute. Doch es gibt auch das Gegenteil von ihnen, sie sind leider ein Fehlschlag, doch das soll Dich nicht weiter interessieren. Wichtig ist, daß Du weißt, wozu Du fähig bist und das Du bereit bist, Dein Leben für Deine Aufgaben zu opfern. Dein Vater...war nur eine Illusion, mein Kind, doch seine Seele war echt. Wir schickten Dir seinen reinen Geist Er ist verbittert, dort wo er lebt. Doch ich kann Dich beruhigen, es geht ihm gut und er liebt Euch, wie Du weißt und er glaubt an Dich. Er wußte als Du geboren warst, was mit Dir passieren wird. Er hat Christa geliebt, er wollte sie beschützen und hat deswegen nichts zu ihr gesagt. Wir sehen wir aus? Nun, so, wie Du es Dir vorstellst, mein Kind. Wir haben keine Form, wir bestehen aus reiner Energie. Iß Dich satt und dann laß uns beginnen. Rufe uns, wenn Du fertig bist.“

Mirka nickte und wartete einen Augenblick. Als sich nichts tat, griff sie zu Brot und Milch und trank und aß abwechselnd gierig davon. Erst jetzt bemerkte sie, wie schwach ihr Körper geworden war....

 

****

Je mehr sie aß und trank, desto satter und müder wurde Mirka. Sie bemerkte kaum, wie sich die Teller, Schalen, Becher immer wieder von neuem füllten. Als sie mit einem kleinem Aufstoßen zurück in den Stuhl sank, auf dem sie saß, durchfuhr ihren Körper plötzlich eisige Kälte. Wind kam auf. Sofort war Mirka vom Stuhl aufgesprungen. Vor lauter Versunkenheit hatte sie für einen Moment vergessen, wo sie war, was sie für eine Aufgabe erfüllen mußte und wie sie sich bemerkbar machen konnte. Verwirrt sah sie sich um. Überall waren Kerzen. Graues Mamor um sie herum. Der Tisch vor ihr war leer und viel zu groß geworden, er ging ihr bis zum Kinn. Mirka rieb sich die Augen. Sie wollte etwas sagen, doch sie bekam keinen Ton heraus. Was war los? War das schon wieder eine Prüfung? Sie atmete tief ein und blinzelte. Sie öffnete den Mund. „Hall...Hallo? Ich...bin...fertig. Was....“ endete sie. Ihre Stimme widerhallte seltsam leise, wie ein Flüstern. Mirka bekam eine Gänsehaut. Eine Tür knarrte hinter ihr. Eine Tür? Sie drehte sich um. Ein Lichtstrahl blendete sie. Als sie sich daran gewöhnt hatte, sah sie wirklich eine Tür, die ein Spalt offen war. Sie war in den Fels gehauen. Erst zögernd, dann mit schnelleren Schritten ging sie auf diese Tür zu. Sie schritt hindurch und fühlte sich seltsam leicht. Eine Stimme holte sie wieder aus ihrem eigenartigem Dämmerzustand zurück: „Bist Du gestärkt, mein Kind? Hat es Dir geschmeckt?“ Die Stimme der Hohen Geister. Jetzt erinnerte sich Mirka wieder. Sie nickte heftig: „Oh, ja, ich danke Euch. Es war ausgezeichnet. Wo bin ich hier?“ Sie sah sich neugierig um. Wieder überall Kerzen, in allen Farben, Größen, Düften. Einige schwebten sogar an der Decke.....es war ein grauer Raum, ohne Fenster, Türen, die Wände glitzerten seltsam....“Setz Dich auf den Boden, Mirka. Bist Du bereit, dem ins Auge zu blicken.....was Deine Mutter so sehr quält? Damit Du eine Vorstellung davon bekommst, was Dich erwartet, wenn Du zur Seelenjägerin wirst? Du brauchst keine Furcht zu haben. Der Dämon wird sich Dir nur zeigen. Er wird Dich weder angreifen, noch zu Dir sprechen. Doch sieh Dich vor! Laß nicht zu, daß er Dir zu lange in die Augen sieht! Denn das Böse erkennt all jene, die sich ihm entgegenstellen und es wird sie immer wiedererkennen und alles daran setzen, ihn zu vernichten. Hast Du das verstanden, Kind? Das ist keine Illusion, es ist echt. Wir können das Böse befehligen, zu erscheinen, wir können das Böse in Körper fahren lassen, um Auserwählte zu prüfen, doch vernichten....können wir es nicht. Es ist immer da. Auserwählte wie Du sind dazu bestimmt, es in seine Schranken zu weisen. Bist Du bereit?“

Mirka schluckte. Sie setzte sich auf den Boden und sah die Decke an. Langsam nickend, die Tränen zurückhaltend sagte sie laut und deutlich: „Ja. Ich bin bereit.“

 

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3.Das Böse hat ein Gesicht

 

Kaum hatte Mirka den letzten Satz ausgesprochen, kam eine orkanartige Windbö auf und Mirka mußte sich zusammenreißen, um nicht laut aufzuschreien. Die Kerzen wurden ausgeblasen, es klang wie ein Wehklagen. Auch die Kerzen, die schwebten, vielen von der Decke und Mirka mußte aufpassen, nicht von ihnen erschlagen zu werden, denn es waren zum Teil große, schwere Kerzen.

Mirkas Herz klopfte bis zum Hals, als die Windbö verschwand. Es war stockdunkel. Sie glaubte, ihren eigenen Herzschlag hören zu können. Ihre Hände zitterten. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hörte sie leise die Stimme der Hohen Herren ganz nah hinter sich: „Sprich den Namen des Dämons aus, wenn Du bereit bist. Und denk daran. Er wird Dir nichts tun. Er sieht Dir direkt in die Augen. Zähl bis 20 im Geiste, so schnell Du es vermagst. Dann blicke auf den Boden. Und alles ist vorüber. Und Du wirst wissen, woran Du bist. Und wir können mit Deiner Ausbildung beginnen, Mirka.“ Die junge Frau umschlang ihre Arme um ihre Knie. Schloß die Augen, rief sich innerlich zur Ruhe. Sie atmete durch die Nase ein, durch den Mund aus. Die Stille war kaum zu ertragen. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah ins Dunkel. Sie öffnete den Mund. Mit fester Stimme sprach sie den Namen aus: „Schattendämon!“

Eine Weile lang passierte gar nichts. Mirka wollte noch mal rufen, doch da hörte sie plötzlich ein Brummen. Sie konzentrierte sich wieder auf die Dunkelheit. Das Brummen war tief und wurde langsam lauter. Mirkas Herz klopfte schneller. Es schmerzte schon in ihrer Brust. Ihre Angst wuchs. Das Brummen war jetzt ganz tief und schien direkt vor ihr. Wie ein Singsang hörte es sich an. Dann sah sie den Dämon deutlich. Nur zwei Schritte trennten sie voneinander. Ein weißes Licht blitzte vor Mirka auf. In kurzen Abständen kamen Blitze, die seine Gestalt zeigten. Er war dünn, hatte ein langes, knochendürres Gesicht, fast wie ein Totenschädel. Seine Augenhöhlen glühten rötlich. Seine Zähne waren die eines Raubtiers, lang und spitz ragten die Eckzähne aus seinem Maul. Seine Arme fuchtelten wild durch die Luft, seine Klauen deuteten auf Mirka. Er trug ein kaputtes, graues Gewand. Mit Kapuze. Mirka wollte sich die Ohren zuhalten, als der Brummton lauter und höher wurde. Sie zählte so schnell die Zahl 20 im Geiste, wie sie konnte. Er blickte auf sie herunter und sie hing an seinem Maul, als sie kurz in seine Augen blickte. Als der Brummton so hoch war, das Mirka ihn kaum mehr wahrnahm, war alles vorbei. Als sie wieder hinunterblicken wollte, sah sie eine Pfütze vor sich, wie ihre Mutter im Bett lag und dem Dämon immer ähnlicher wurde. Sie sprang auf und schrie.....schrie......

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Es wurde wieder hell. Diesmal taghell. Mirka taumelte an eine weiche Wand, holte Atem, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie wollte einfach nur noch weg. Sie fühlte sich elend. Sie hatte den Feind gesehen. Ihren Gegner. Und er hatte sie gesehen. Sie war völlig verängstigt, als sie ihre Mutter sah, die dem Dämon mehr und mehr glich. Das schmerzte sie so sehr, daß ihre Gefühle aus ihr herausbrachen. Und niemand war da, der sie tröstete. Keine Großmutter. Keine Geschwister. Kein Wolle. Keine Rosalie. Sie war allein. Mit einer höheren Macht. „Mirka? Es ist gut. Die erste Hürde ist überwunden. Komm.“ Sie sah auf. Vor ihr stand ein junger Mann, der Malte sehr ähnlich sah. Sie ergriff automatisch seine Hand, die er ihr da bot und ließ sich mitschleifen. Es war gut, etwas menschliches, vertrautes zu sehen, dachte sie. War es Zufall, das der junge Mann Malte ähnelte? Die Hohen Herren schienen anscheinend alles über sie zu wissen. Mit wackligen Knien, verweintem Gesicht, verängstigt, war sie nun gefaßt, auf ihre nächsten Aufgaben. Die Ausbildung......

 

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Die warme, weiche Hand, die sie hielt, lies sie los. Als sie aufblickte, war sie erneut allein. Sie war vor der Höhle! Eine frische Brise strich durch ihre Haare, die Luft war klar. Vogelzwitschern war aus der Ferne zu hören. Mirka atmete die Luft tief ein. Sie reckte sich. Der schmale Gang war wieder vor ihr. Die lange Brücke mit den Stufen sah sie vor sich, am Ende des Ganges. „Der Dämon kennt Deine Berufung. Du hast sein Wesen erkannt. Das Böse in seinen Augen gesehen. Die Kälte, die von ihm ausging, gespürt. Dein Instinkt wird Dir später verraten, wie Du ihn dorthin schickst, wo er herkam. Geh nun wieder den Weg, den Du gekommen bist. Alles weitere ergibt sich von selbst. Du wirst eine gute Kämpferin, Mirka. Du bist sehr tapfer. Blick nicht zurück. Laß Deine Jugend hinter Dir. Mit jedem Schritt, den Du von nun an gehst, werden die Erinnerungen an Deine Menschlichkeit schwächer. Mehr und mehr wirst Du das, wozu Du auserkoren bist. Eine unsterbliche Ritterin. Wenn Du an einen See gelangst und hinein blickst, erkennst Du Deine zukünftige Gestalt. Und erfährst Deinen neuen Namen, erhältst Deine Waffen, erfährst alles über die Legende Deiner Wesenheit. Ab da beginnt Dein Lernprozeß. Nun geh, Kriegerin. Und beeile Dich. Die Zeit läuft gegen Dich. Christa ist sehr, sehr schwach. Der Dämon wird zusehends stärker. Martha verliert mehr und mehr an Magie und Stärke. Besinne Dich auf die Liebe zu Deiner Familie. Das ist das Einzige, was Dich noch antreibt. Wir wissen das. Doch Du wirst jetzt mehr und mehr ein Wesen der jenseitigen Welt. Das ist das Opfer, das Du bringst, um diejenigen zu retten, die Dich lieben. Du wirst sie vergessen. Du wirst ein völlig neues Leben beginnen, das sich nur nach den Missionen richtet, die wir Dir erteilen. Wir wünschen Dir Kraft. Geh!“ ertönte noch einmal die Stimme der Hohen Geister. Mirka lief sofort los. Nur mit einem Gedanken an ihre Mutter. Sie sah das Bild vor sich, wie Christa immer mehr zum Schattendämon mutierte. Sie sah nicht zurück. Nun wurde sie zur Seelenjägerin. Sie konnte es förmlich spüren, wie ihre Kräfte wuchsen. Hohen Hauptes, neuen Mutes, mit wallendem Gewand, wehenden Haaren lief sie den engen Gang entlang so schnell es ging, um die Treppen hinunter zu steigen, die sie zuvor erklommen hatte.....

 

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4. Die Verwandlung

 

Immer wieder stolperte Mirka auf die Knie, rappelte sich wieder hoch, lief weiter. Blickte sich nicht um. Sie fühlte eindeutig etwas hinter sich oder auch die Augen, die sie von allen Seiten zu fixieren schienen. Ihr Blick war starr nach vorn gerichtet. Ihre Lungen brannten vor Schmerzen, sie keuchte, schwitze, die Haare klebten an ihrem Gesicht.

Stimmen ihrer Familie drangen wie ein Flüstern, das langsam lauter wurde an ihre Ohren. Mit Tränen in den Augen und zusammengebissenen Zähnen lief sie weiter. Die Uhr lief. Sie vermochte nicht daran zu denken, wenn es zu spät war. Der Schattendämon war eine grausige Gestalt mit viel Wut in sich. Und er war mächtig. Als Mirka erneut hinfiel, ruhte sie ein paar Minuten, um Engerie zu tanken.

Sie sah sich um. Sie war an einem kleinen Waldstück angelangt. Weiches Moos unter ihren wunden Knien, Füßen. Wasser rauschte in der Nähe. Sie hatte Durst. Sie ging dem Geräusch nach, sah einen kleinen Wasserlauf, lief darauf zu und hielt inne.

 

Ein wunderschöner, schwarzer Panther saß geduckt an dem Bach und trank. Mirka schluckte. Sie liebte Panther, hatte viel darüber gelesen und gehört. Sie verharrte und sah das schöne, schlanke Tier, dessen schwarzes Fell glänzte zu. Die grünen hellen Augen blitzen kurz auf. Das Tier schien sie nicht zu bemerken.

Langsam ging Mirka auf den Bach zu, der Durst trieb sie, auch wenn sie damit rechnete, das Tier würde weglaufen. Doch hier war nichts normal. Es könnte auch ein Wesen sein....das verflucht war. Mirka mußte an den Werwolf denken.

Sie kniete sich nieder und hielt ihre Hände in das kühle Wasser. Sie besprenkelte ihr Gesicht damit und schöpfte mit den Händen etwas Wasser hinaus um zu trinken. Als sie in Richtung des Raubtiers blickte, war es.....nicht mehr an der Stelle. Sie sah neben sich. Er hockte direkt neben ihr. Hechelnd. Seine Augen fixierten sie.

Mirka hatte seltsamerweise nicht die Spur von Angst. „Trink Dich satt. Folge mir. Ich bringe Dich zu einem verwunschenem See. Dort badest Du. Wenn Du auftauchst, wirst Du anders sein.“ Sprach das Tier mit einer weiblichen, hellen, verführerischen Stimme zu ihr im Geiste. Mirka lächelte. Sie wollte dem Panther über den Kopf streicheln, doch da erhob er sich und trottete davon.

Sie bekam Hilfe. Sie wußten, was mit ihr war. Sie war dem Tier dankbar. Sie wurde nervös. Sie würde anders sein. Wenn sie in diesem See badete. Mirka trank noch ein paar Mal und stand dann auf, um der Fährte des Tieres zu folgen.

Als sie das schöne Tier erblickte, das auf sie gewartet hatte, setzte die Großkatze sich in Bewegung. Sie liefen durch eine schmale Gasse. Es war still. Seltsames Licht in allen Farben umspielten die zwei Gestalten. Dann kamen sie zu einer kleinen Lichtung. Ein großer See, dessen Wasser schwarz war und leichter Nebel ihn einhüllte, lag vor ihnen. Mirka sah das Tier an und erwartete wieder eine Stimme in ihrem Kopf: „Zieh Dein Gewand aus. Tauche tief unter. Halte die Luft an. Hab keine Furcht. Wenn Du auftauchst, Dich im Wasser spiegelst, wirst Du verstehen. Viel Glück, Seelenjägerin. Wir heißen Dich in unserem Kreis willkommen.“ Hörte sie die Stimme wie aufs Stichwort. Sie nannten ihren Namen. Seelenjägerin. Mirka fühlte sich aufeinmal seltsam wichtig. Es war kein Wind zu spüren, kein Vogel zu hören. Merkwürdige Atmosphäre hier, dachte Mirka. Sie sah den Panther an, der schon wieder dabei war, mit der Dunkelheit eins zu werden. Das Licht war wie ein Wetterleuchten, es veränderte ständig Größe, Farbe...schimmernd....

Mirka blickte auf den See. Wabernde Nebelschleier tänzelten wie Wattefäden über die Oberfläche. Mirka entledigte sich ihres Nachthemdes und der Unterhose. Langsam schritt die junge Frau in den See. Er war nicht kalt. Sie genoß das Wasser, entspannte sich, schwamm ein paar Runden. Sie tauchte unter, schloß die Augen, hielt die Luft an, solange sie konnte. Eine Minute. Zwei Minuten. Dann tauchte sie auf....und sah eine völlig andere Welt vor sich!

****

Mit zitternden Knien auf allen Vieren kriechend, verließ Mirka den See. Sie fror. Sie suchte ihr Nachthemd, was auf dem Boden gelegen hatte. An seiner Stelle lag dort etwas schwarzes. Sie hob es hoch. Es war ein schwarzer Lederanzug. Das Leder fühlte sich kalt an und dünn. Sie zog ihn über. Es paßte wie angegossen. In der Mitte war eine Kordelleiste, er wurde mit braunen Lederbändern zusammengehalten. Sie schnürte ihn zusammen und wunderte sich, wie vertraut dieses Gewand ihr war. Sie sah auf. Ein dichter, dunkler Tannenwald war um den See herum entstanden. Auch die Stille war verflogen. Vögel zwitscherten. Äste knackten. Mirka sah auf ihre Hände. Ihre Fingernägel waren seltsam schwarz verfärbt, länger und spitzer geworden. Sie erschrak.

Sie drehte sich um und sah auf die Oberfläche des Wassers. Ihr blasses, schmales Gesicht war noch dasselbe. Ihre Haare waren länger, leuchteten in einem dunkleren rot, waren lockiger. Ihr viel gar nicht auf, das ihr nasser Körper schnell trocken geworden war. Ihre Augen blitzen in einem hellen grün auf.

Sie schob den Ärmel hinunter, wo ihr Mal gesessen hatte. Der halbmondförmige Leberfleck war verschwunden! Sie hatte sich verwandelt. Wie man es ihr prophezeit hatte. Sie war jetzt eine Seelenjägerin. Äußerlich. Sie fühlte sich stark. Lächelte. Sah sich um. Ging ein paar Schritte auf den Wald zu. Atmete die frische Luft ein. Sie reckte sich.

Sie wußte nicht mehr, wie ihr geschah. Sie war zu sehr fasziniert von ihrer Verwandlung und ihrem Machtgefühl, das sie nicht bemerkte, wie man sie beobachtete. Erst, als sie ein bedrohliches Knurren hinter sich bemerkte, blieb sie stehen.....

 

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Kaum hatte sie sich an ihre neue Gestalt gewöhnt, mußte sie sich schon mit neuen Gefahren auseinandersetzen. Das drohende Knurren wurde lauter. War ganz nah. Mirka schluckte. Sie konnte spüren, wie das Wesen immer näher kam. Sein Gestank ähnelte dem eines Trolls. Mirka mußte sich zusammenreißen, um nicht zu würgen. Sie ließ das Wesen nah an sich heran, bewegte sich nicht. Sie fühlte, wie es um sie herumschlich und ihre Witterung aufnahm. Es schnüffelte. Aus den Augenwinkeln sah sie aus ihrem eigenen Blickwinkel nichts....ihr Blick senkte sich nach unten. Sie fühlte etwas nasses an ihren nackten Füßen. Sie sah hinunter. Ein am ganzen Körper braunbeharrter, spitzohriger Wichtel, mit spitzen Zähnen, spitzen Ohren, schmalen, Gliedern schnüffelte an Mirkas großer Zehe. Mirka mußte fast erleichtert auflachen, als der Wichtel sein Maul öffnete und gefährlich aussehende spitze kleine Zähne sich verdächtig nah ihrem Zeh näherten. Der Wichtel war kaum größer als Mirkas Unterarm, doch schien er nicht friedlich gesinnt zu sein. Erschrocken wich Mirka zurück, stolperte unglücklich nach hinten und viel auf den Rücken. Der Wichtel veranstaltete plötzlich ein ohrenbetörendes, langanhaltendes Siegesgeschrei in einem hohen Krächzen, hüpfte von einem Beinchen auf das andere und machte Anstalten dazu, sich auf Mirka zu stürzen, als die Auserwählte sich berappelte und auf die Füße kam.

Ein Rascheln von allen Seiten ließ sie aufhorchen. Sie war kaum in der Lage zu sprechen, wagte nicht, zu atmen. Der Gestank wurde stärker. Das Knurren und Fiebsen von vielen Wichteln drang an Mirkas Ohren. Sie drehte sich um ihre eigene Achse und fand sich plötzlich umzingelt von sabbernden, beharrten, zähnefletschenden Wichteln....mehr und mehr erkannte Mirka, das diese Wichtel gar keine Wichtel waren, sondern Kobolde...sie kreisten sie ein....Mirka überlegte fieberhaft.....sie hatte keine Zeit sich mit diesen Wesen anzulegen....ihre Mutter wartete auf ihre Hilfe. Verzweifelt sah sie auf die hungrige Meute und bekam Angst...Es wurden immer mehr....was sollte sie tun?

 

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Der erste Kobold, der sie entdeckt hatte trat vor. Er öffnete sein Maul und eine rauhe, krächzende Stimme war zu vernehmen. Die Worte, die er sprach verstand Mirka nicht. Doch je länger er sprach, um so deutlicher wurde seine Sprache für sie. Seine kleinen schwarzen Knopfaugen musterten Mirka von oben bis unten. Plötzlich verstand Mirka seine Worte.....sie war jetzt ein Teil von jenen, die ihren Weg kreuzten...sie begriff....sie war neu geboren....sie wurde ihrem Ruf, dem sie folgen mußte, mehr und mehr gerecht: „Du bist in unserem Revier, was fällt Dir ein? Mach gefälligst, das Du wegkommst, sonst werden wir Dich in Stücke reißen. Wir haben seit Tagen nichts gegessen, Frau. Es wäre zu schade, so eine neugeborene Schönheit wie Dich bis zur Unkenntlichkeit abzunagen. Ich bin Gildor, Häuptling des Zwergkobolden-Volkes. Sieh sie Dir an. Sie erkennen Dich. Sie werden Dich immer erkennen. Ich habe nicht jeden von ihnen unter Kontrolle. Nicht jeder, der es bis hierher schaffte, überlebte. Nun, Frau....geh. Du wirst gebraucht. Blick nicht zurück. Bleib nicht stehen. Während wir hier reden, wird der Dämon in Deiner Mutter immer mächtiger, Frau. Verschwinde!“

Als Mirka die letzten Sätze Gildors hörte, erschrak sie. Ihr wurde mehr und mehr bewußt, das ihre eigentliche Aufgabe immer wieder von den Wesen, die ihr begegneten, in Erinnerung gebracht wurden. Sie selbst vergaß! Sie vergaß, wer sie war. Ihr Menschsein drängte mehr und mehr in den Hintergrund. Ihre Verwandlung begann nicht nur äußerlich. Auch im Inneren wurde Mirka mehr und mehr zu einem unsterblichen Wesen....

Tränen rannen Mirkas Wangen entlang. Die vielen Kobolde sahen zu ihr auf. Es müßten inzwischen Hunderte geworden sein. Gildor drehte sich um und hob seinen kleinen Arm. Eine Gasse wurde gebildet, so daß Mirka hindurchkonnte. Sie lief in den Wald hinein und hörte ihre Mutter plötzlich rufen: „Ich sterbe.....hilf mir.....!“ Mirka schrie auf: „Neeeeeiiiiin!“ und lief und blickte nicht hinter sich. Kaum hatte sie die Kobolde hinter sich gelassen, schrie über ihr etwas Gewaltiges, ein Schatten legte sich über sie. Riesige Schwingen schlugen über ihrem Kopf zusammen. Sie blickte sich um, sah nach oben und sah einen riesigen Greifvogel ein schwarzer Adler, dessen gefährliche lange Krallen immer näher kamen. Wie ein Flüstern drang eine sanfte, tiefe Stimme an ihr Ohr: „Ergreife meinen Fuß!“ Sie streckte instinktiv einen Arm nach oben, bekam eine lange Kralle zu fassen und hielt sich fest.....sie wurde über den Boden geschliffen und hob in die Luft ab.....sie hangelte sich an der Kralle entlang, zum Bein und hielt sich an den Federn fest, kroch am Hals des Vogels hoch, bis sie hinter ihm sitzen konnte. Sie flog auf einem Adler! Der Wald unter ihr wurde immer kleiner. Sie sah die Kobolde wie sie unter ihr herliefen und immer winziger wurden. „Danke...wer bist Du?“ Der Adler stieg immer höher. Sie hörte eine Stimme in ihrem Kopf: „Mein Name ist Nirm. Es wird Zeit. Du hast genug durchlitten. Ich bringe Dich zu Lyria, sie ist die Dunkle Mutter. Sie wird Dich in Kampfkunst und Magie einweisen. Dann wirst Du wieder zurückkehren. In Deine Welt. Wir hoffen, Du besiegst den Dämon. Wir sehen uns wieder, Jägerin, Hüterin der Seelen. Halt Dich fest.“

 

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5. Die Dunkle Mutter

 

Mirka hielt sich an den weichen Federn des riesigen Adlers fest. Der Wind pfiff ihr um die Ohren, es klang wie ein trauriges Klagelied. Mirka legte sich auf den Hals des Adlers, schloß die Augen und viel in einen leichten Dämmerschlaf. Bilderfetzen wie den lachenden Malte, ihren Geschwistern, ihrer Großmutter Martha, Wolle mit dem sie im Hof zu Hause spielte und Rosalie mit der sie im Wald ritt, brachten Erinnerung an zu Hause. Seufzend krallte sie sie ihre ihre Hände in die Federn des Adlers. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Sie hörte das monotone Flügelschlagen der riesigen Schwingen des Greifvogels und fühlte sich entspannt. Die dunkle Mutter, dachte Mirka. Was für ein Wesen das wohl sein mag?

Eine wohlige Mattigkeit ergriff ihre Glieder, sie wurden schwerer. Langsam sank die zukünftige Seelenjägerin in einen erholsamen Schlaf. Nirm stieg hoch in die Wolken hinauf, flog über Berge, grüne Täler, düstere, vernebelte Wälder zu dem Hort der dunklen Mutter. Das Wetter schlug immer mal wieder um. Mal flogen sie durch herrliche Regenbogen, die in allen erdenklichen Farben schimmerten und eine Brücke zur Erde schlugen. Dann regnete es und ein orkanartiger Sturm peitschte auf den Adler hinab, sein Federkleid war jedoch so dicht und fest, daß die Tropfen ihn nicht schwerer werden ließen und er den Flug abbrechen mußte. Mirka bekam von alledem nichts mit. Sie wurde durch den Sturm schnell wieder trocken. Ihr tiefer Schlaf gab ihr Kraft.

Nach gut 2 Tagen ohne Pause landete Nirm in dem verbotenen Tal. Dort hausten die dunkelsten Geschöpfe, die sich je in den Köpfen der Menschen ein Nest bauten und Ängste, Aberglaube aufrecht erhielten. Heilige, Götter, Auserwählte wie Mirka, alles versammelte sich dort. Wesen, die halb menschlich, halb Tier waren oder auch umgekehrt. Es gab Tiere, die menschliche Eigenschaften besaßen, um in der Welt der Sterblichen nach den Schwachen zu suchen, um diese zu beschützen.

Die dunkle Mutter war eine uralte Göttin einer besonderen Rasse von Untoten. Nirm war ein 1000jähriger Adler, der einst Magiern als Nachrichtenüberbringer oder Reisegefährt galt. Oft retteten sie auch vielen magischen Wesen während lebensgefährlichen Kämpfen das Leben oder setzten es aufs Spiel, wenn die Naturgewalten außer Kraft gesetzt waren und sie im Flug von riesigen Felsbrocken oder Flutwellen zu verunglücken drohten. Doch viele Magier, Zauberer oder Nachkömmlinge des Zauberns starben aus oder wendeten sich dem Bösen zu.

Nirm wurde dazu ausersehen, Menschen wie Mirka zu Orten zu bringen, die sie zu dem machten, wozu sie bestimmt war. Wenn er seine Aufgabe erfüllt hatte, flog er wieder zu seinem Platz zurück, einem ruhenden Vulkan, wo einst Drachen lebten, die unsagbar wertvolle Schätze beschützen und wunderschöne Jungfrauen töteten, um durch ihr Blut an Lebensenergie zu gewinnen. Drachen gab es nur noch wenige. Die meisten lagen zum Sterben tief versteckt in Höhlen oder Vulkanen. Sie erwarteten tapfere Ritter, Drachentöter, die ihr ewiges Leben beendeten. Nur wenige Lindwürmer erwachten aus ihrem langen Schlaf und ihrer Lethargie und halfen den Menschen in Kriegen oder heilten sie mit Schuppen, Blut, Herzstücken, die heilende Kräfte besaßen.

Als Nirm an dem Tor zum Eingang des Tals landete, schlief Mirka immer noch tief und fest. Nirm schrie kurz auf, um Mirka zu wecken. Mirka hob den Kopf, gähnte, reckte sich, rieb sie die Augen und sah sich um, um sich zu orientieren. Die sanfte Stimme des Tieres in ihrem Kopf, setze sie davon in Kenntnis, das sie angekommen waren: „Du mußt durch das Tor. Ich kann nicht mitkommen. Hab keine Angst. Sie wird Dich behandeln, wie ihre Tochter. Hör auf sie. Und hör gut zu.“

Mirka kletterte etwas unbeholfen von dem Hals des riesigen Vogels hinunter. Ein kurzer Windstoß ergriff sie und sie taumelte nach vorn, auf die Knie. Sie sah Wirm nachdenklich hinterher, der sich sofort, nach dem Mirka abgestiegen war, in die Lüfte erhob. Sie stand auf und sah ein riesiges, schwarzes Tor vor sich aufragen, aus Metall. Mirka schluckte. Sie schritt langsam auf das Tor zu. Wie von Geisterhand öffnete sich quietschend eine der Türen......Mirka trat hindurch. Ihr Herz klopfte. Lyria, die dunkle Mutter....wie sie wohl aussah?

****

Die ersten Schritte kurz vor dem Tor waren zaghaft. Mirkas Herz klopfte so laut und schnell, daß sie dachte, es würde ihr aus der Brust springen. Knarrend gleitete die riesige Seitentür ein Stück weiter auf, Mirka erschrak kurz, ein Zucken durchlief ihren Körper, dann schlüpfte sie schnell hindurch. Der Boden unter ihren Füßen war kalt und glitschig.

Kaum war sie durch das Tor gegangen, schloß sich die Tür mit einem lauten Knall hinter ihr. Sie sah überall Fackeln, große, in hellorange leuchtende Fackeln, die wie lange Stoßzähne in den schwarzen Nachthimmel ragten. Mirka sah zu Boden.

Um sie herum verstreut lagen Gerippe. Kahle Gerippe von Menschen. Raben, Ratten und riesige, behaarte Spinnen, die so groß wie Mirkas Hände waren, krabbelten zwischen den Gebeinen hindurch.

Das, dachte Mirka sich, war anscheinend die weniger schöne Seite dieser Welt, in der sie hinein geboren wurde.. Ein Zischen vor ihr! Sie sah ruckartig vor sich. Pfeile schossen plötzlich wie aus heiterem Himmel aus der Luft, die gefährlichen Spitzen direkt auf sie gerichtet. „Nimm beide Hände in Brusthöhe!“ war Marthas leise Stimme plötzlich in ihrem Kopf! Reflexartig tat sie, was man ihr rät.

Sie hob sofort beide Arme in Brusthöhe angewinkelt und ihre Hände zeigte mit der Innenfläche senkrecht nach außen. Die Pfeile blieben einen knappen Zentimeter vor dieser Schutzhaltung mitten in der Luft stehen. Mirka hatte die Augen zugekniffen. Als sie die Pfeile auf den Boden fallen hörte, fiel auch von ihr ein Seufzer der Erleichterung ab. „Gut reagiert, Auserwählte. Komm näher.“ Hörte sie eine helle, sanfte Stimme. Lyria. Sie ging der Stimme nach, bis sie an einen Thron aus Stein gelangte.

Dort, umhüllt von einem wallenden schwarzen Kaputzenumhang, saß sie. Oder es. Sie wußte nicht ob die dunkle Mutter eine Frau war, die einer Hexe glich oder ein Wesen der Nacht. Nur eins spürte sie. Ihre Macht. Sie blieb stehen. Hell leuchtende grüne Schlitze blitzen in der Schwärze der Kapuze auf. Lange, knochige, dünne Finger, mit stiftartigen Krallen umschlossen ein Schwert, das silbern glänzte, dessen Griff einen silbernen Halbmond zierte und merkwürdige, kyrillische Schriftzeichen.

„Ich bin die Mutter aller. Ich bin die Göttin der Untoten und die Lehrerin von Auserwählten. Dieses Schwert hier, wird Dein Erbe sein. Es ist eine von vielen Waffen, die Du benutzen wirst, um zukünftige Seelen für Dich zu beanspruchen. Doch das Wichtigste bei einer Frau......sind immer noch ihre eigenen Waffen. Sie Dich an!“ Sie deutete auf eine Stelle, deren Blick Mirka folgte. Ein großer Spiegel, verziert mit vielen Gesichtern von Trollen, Dämonen, Schlangenköpfen und menschlichen Totenköpfen zeigte sich ihr. Er entstand wie aus dem Nichts so schien es.

Sie ging darauf zu. Sie blickte an sich hinunter. Der schwarze Lederanzug lag eng an ihrem Körper, ihre Hüften und Busen wurden betont. Ihre dunkelroten, lockigen Haare fielen locker über ihre Hüften. Ihre einst blauen Augen blitzten grün. Ihre schwarzen Fingernägel glänzten. Auch ihre Fußnägel waren schwarz.

Als sie wieder hochblickte, sah sie die alte Mirka, sie war in ihrer Tracht, die sie beim Fest getragen hatte, sah ihr Mal, wie es verschwand. Dann sah sie sich im Nachthemd, dem Schattendämon gegenüber, sie wich zurück.

Am ganzen Körper zitternd, einen dicken Kloß hinunterschluckend, blickte sie sich weiter an. „Willst Du sehen, wer Du sein wirst? Wenn ich mit Dir fertig bin? Schließ die Augen.“ Mirka schloß sie. Sie fühlte eine Veränderung an sich. Kühles Samt umschloß ihren Körper, sie trug plötzlich ein Kleid. „Sieh hin!“

Mirka blieb der Mund offenstehen. Sie trug ein hochgeschlossenes Samtkleid in Schwarz, mit langen Ärmeln. Ihre Haare waren hochgesteckt. Ihr langer, schlanker, weißer Hals lies sie größer erscheinen. Sie trug das Schwert in der Hand, ein Schild, hohe Stiefel. Ihr Dekolleté war tief ausgeschnitten, der Ansatz ihrer Brüste glänzte vor Schweiß. Mirka war sprachlos. Sie war wunderschön! „Das sind die Waffen einer Frau. Ihre Ausstrahlung. Wenn sie in Besitz von Macht und Stärke ist. Das zeigt sich auch an ihrem Körper, Auserwählte.“

Der Spiegel hüllte sich in Nebel und wurde schwarz. Mirka hatte das Kleid immer noch an. Sie fühlte sich wohl. Ihre Angst vor Lyria war unbegründet. Und auch verflogen. „Fang auf!“ Das Schwert, was ihr mit dem Griff zuflog, ergriff sie instinktiv.

„Mit diesem Schwert hat einst eine meiner vielen Schülerinnen gekämpft. Sie war einer der besten. Im Moment beschützt sie Deine Mutter, mein Kind.“ Mirkas Kinnlade klappte herunter: Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln. Wortlos formte sie den Namen mit ihren Lippen: Martha! Als sie Lyria anblickte, konnte sie kurz ihren Mund sehen, einen schmalen Strich, graue, schmale Lippen, an den Seiten blitzten kurz scharfe, lange Eckzähne auf. Die Zähne waren weiß wie Schnee. Mirka mußte sofort an die Legende der Vampire denken und an Geschichten, die sie ihren Geschwistern aus alten Büchern über diese Wesen vortrug. Sie selbst fand diese Geschöpfe faszinierend. Sollte sie nun etwa von einem Vampir eingewiesen werden? Sie sah plötzlich Martha vor sich, wie sie Seite an Seite mit Mirka vor Christas Bett gestanden hatte.

Sie tritt ihr Erbe an Mirka weiter. Doch dieses Schwert hätte sie doch gegen diesen verdammten Dämon....ihre Gedanken wurden unterbrochen: „Sobald die Macht einer Seelenjägerin durch ihr Alter schwindet, tritt die Kraft automatisch auf die Erbin über. Mit ihr gehen auch die Waffen, die sie einst führte, wieder an den Ursprung zurück. Und nun genug geredet. Du weißt, es wird Zeit.“

Vor Mirka tat sich plötzlich eine Horde von Dämonen zusammen. Sie kamen von allen Seiten, krochen aus dem Boden, senkten sich aus der Luft herab. In allen Größen, häßliche, schöne, stinkende, schleimige, sabbernde Gestalten fixierten sie aus bösen funkelnden Augen. Bedrohliches Knurren, Fauchen, Wimmern, Stöhnen, ununterbrochenes Geflüster sollten Mirka verwirren. Einige dieser Geschöpfe kannte sie aus Geschichten, andere machten ihr nur durchs Hinsehen Angst. Leise und bestimmt drang die Stimme Lyrias an ihr Ohr. Sie hob ihr Schwert umfaßte den Knauf mit beiden Händen. Es war nicht sehr schwer. Mirka bekam eine Gänsehaut und kniff die Augen zusammen. Sie konzentrierte sich. Die Lehre für die Auserwählte, hatte begonnen.....

 

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6. Die Macht der Magie

 

Mit strenger Stimme und wachsamen Augen instruierte die alte Göttin ihre Schülerin, gab an, wie sie jene Dämonen bekämpfen, in Schach halten, täuschen und töten konnte. Sie lehrte Mirka auch die verschiedenen Sprachen der Wesen, während sie kämpfte. Ab und an mußte Mirka auch Hiebe einstecken, sie blutete am Kinn, hatte Schrammen an Armen und Beinen und war mit vielerlei Schleim und Sporen bedeckt, die manche Dämonen als körpereigene Waffen benutzten. Sie hielt sich tapfer, in geduckter Haltung, immer wieder im Kreis drehend, ihren Feinden entgegen.

Als sie schließlich mit dem Schattendämon kämpfte, sah Lyria die Bilder in ihrem Kopf, die Mirka von den Hohen Geistern geschickt bekam, als sie den Dämon zum ersten Mal sah. Abgelenkt von diesen Bildern, merkte sie nicht, daß Mirka vor dem Dämon zurückgewichen war. Erst ein Aufschrei ihrer Schülerin ließ sie die Aufmerksamkeit wieder auf diese lenken. Die dunkle Mutter erhob sich vom Thron: „Mirka! Steh auf! Stell Dich ihm entgegen. Sieh ihm in die Augen. Hör nicht auf seine Beleidigungen und Lügen. Denk an Christa. Schlage ihm den Kopf ab! Schicke ihn zurück mit den Worten: „Dir soll nicht gehören, was ich liebe!“ Lyria ballte die Fäuste. Jetzt kam es drauf an. Denn sobald Mirka es geschafft hatte, den Schattendämon zu besiegen, würde sie mit diesem Wissen wieder in ihre Welt geschickt, um ihre Mutter von den Qualen zu erlösen. Wenn das geschehen war, würde die wahre Bestimmung Mirkas wirken. Die Prüfung die dann folgt, wird für alle Beteiligten noch schwer genug.

Unsicher sah Mirka kurz zur dunklen Mutter. Sie hatte sie auf die Knie gerobbt, der Dämon flog dicht vor ihrem Gesicht hin und her, dem Schwert ausweichend, das Mirka ihm dicht an die Brust hielt. Sie kam auf die Füße. Begann zu schreien, stob nach vorne. Der Dämon lachte sie aus. Er hob die Arme, so als wolle er sie hochleben lassen, neigte den Kopf zu ihr und öffnete sein Maul. Es wurde immer länger und breiter, so daß Mirka das Gefühl hatte er würde sie verschlingen. Lyria schrie etwas in einer fremden Sprache, Mirka verstand Fetzen wie: „Fair sein im Kampf.....Machtgehabe.....Gesetze achten....“. Als der Kopf des Dämons kurz zu Lyria gewand war, sah Mirka ihre Chance. Sie hob das Schwert in Schulterhöhe und schleuderte es quer durch seinen Hals. Wie in Zeitlupe flog sein Schädel zur Seite, grünes Blut spritze von allen Seiten, auch auf Mirka, wie ein Fontäne aus der großen Wunde. Mirka bekam das Blut in die Augen, sie keuchte auf, fiel auf den Hintern. Sie sagte die Worte, die Lyria ihr im Zorn zugerufen hatte: „Dir soll nicht gehören, was ich liebe!“ zu ihrer Überraschung sprach sie die Worte in einer völlig fremden Sprache. Der kopflose Körper des Schattendämons bäumte sich noch einmal kurz vor Mirka auf, sie robbte zurück, erschrak. Dann zerfiel ihr vor ihren Augen zu Staub.

Mirka atmete heftig, begann zu weinen. Sie lies das Schwert fallen, ihr Körper gab der Erschöpfung nach. Sie legte sich auf den Rücken, hielt sich die Hände vors Gesicht. Sie fühlte, wie starke Arme sie hochhoben, ohne zu erschrecken, ließ sie dies geschehen. Tröstendes Geflüster der dunklen Mutter drang an ihr Ohr: „Das hast Du gut gemacht, Mirka. Mit diesem letzten Wissen kannst Du nun endlich zurückkehren. Als Seelenjägerin wirst Du den Dämon in Christa bezwingen. Dein Schicksal hat sich erfüllt. Von nun an hast Du Deine sterbliche Hülle abgelegt und somit auch Deinen Namen. Jetzt bist Du Dina, die Seelenjägerin. Auf Dich wartet ein schwarzer Hengst, er kennt den Weg in Deine Welt. Sieh nicht zurück. Laß die Bilder, die Du im Traum sehen wirst, auf Dich wirken. Es werden die letzten sein, an die Du Dich erinnern wirst, als Mensch. Wenn Du zuhause angekommen bist, wirst Du Deine Aufgabe erfüllen. Dein neues Leben wird beginnen. Der Weg erfordert noch viele Schmerzen, viel Leid, Opfer mußt Du bringen. Du bist stark, Dina. Du gehst Deinen Weg. Ich glaube an Dich. Und nun geh!“

Dina fühlte, wie sie auf weichem Moosboden gelegt wurde. Als sie aufblickte, war Lyria verschwunden. Sie roch Laub. Sie war im Wald. Sie hörte Schnauben von Nüstern. Sie setzte sich auf. Ein paar Meter entfernt stand ein wunderschönes, schwarzes Pferd, mit langer Mähne, glänzendem Fell. Schwarzen, treuen Augen. Es wieherte. Sah sie an. Schabte mit den Vorderhufen, so als wolle es sagen: „Komm, es wird Zeit.“ Es war gesattelt.

Zitternd und unsicher ging sie auf den Hengst zu. Ihr fiel etwas auf. Sie sah an sich hinunter. Ihr Schwert steckte in einem Gürtel, sie trug einen schwarzen Lederanzug , hohe Stiefel. Sie fühlte an ihrem Kopf. Ihre Haare waren hochgesteckt. Sie sah auf ihre Fingernägel. Schwarz, lang und spitz. Ihre Haut war blas. Erneutes Wiehern und Aufbäumen des Pferdes. Dina atmete tief durch. Sie setzte sich auf den Hengst und kaum war sie auf ihm, lief er sofort im Galopp los.....

Sehr schnell. Dina ergriff die Zügel und lehnte sich an den Hals des Tieres. Ihre Augen wurden schwer. Sie begann in einen leichten Schlaf zu fallen. Und sie träumte...

 

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7. Dinas Geburt

 

Gehüllt in zarte Nebelschleier, wie ein festgehaltener Hauch in der Luft, überfielen Dina die Bilder ihrer Vergangenheit. Sie sah sich als kleines Kind auf dem Hof, wie sie mit ihren Geschwistern die Gänse gefüttert hatte, ihren Vater, der sie auf Rosalie hob, ihre Mutter, wie sie Tabea stillte, Malte, wie er Mirka damals das erste Mal geküßt hatte, plötzlich kam Christa ins Spiel, wie sie sich verändert hatte. Sie sah Wolle, wie er vor Christa zurückwich, sie sah den Schattendämon und sich und Martha, wie sie versucht hatten, den Dämon zu bezwingen.

Bruder Martin war da, er hatte dicke Bücher vor sich, die er wälzte, an denen er selbst schrieb, sie sah seine Visionen von Dämonenheeren, wie sie in das Dorf einfielen und Mirka als Seelenjägerin mittendrin, mit Schwert und blutverschmiertem Körper, wie sie über die Getöteten stieg...Sie sah die Elfenkönigin, wie sie mit Martha sprach, sie sah einen riesigen Schwarm Fledermäuse, der über dem Hof schwebte, viele kleine Lichter waren dazwischen, doch ihr Licht erlosch, die Kugeln fielen nach und nach zu Boden....es waren die Elfen, die mit allen Kräften versuchten, die Macht des Bösen von dem Haus fernzuhalten. Sie sah Wolle, wie er sich in Rolalies Stall hinter einem Heuballen verkroch, er zitterte am ganzen Leib und winselte.

Dann fiel der Blick auf ihre Mutter. Die Laken waren naß vom Schweiß, durchwühlt, Christa, nicht mehr sie selbst, stark abgemagert, blutunterlaufene Augen, blass wie der Tod selbst, keine Farbe mehr in den Lippen, warf den Kopf hin und her, stammelte den Namen ihrer Tochter, doch ihre Stimme war verfremdet, tiefer rauher, als Christa direkt in Mirkas Augen sah, die mit Martha vor dem Bett wachte, sah Mirka in rote Augen und Martha packte ihre Enkelin am Arm, um sie wegzureißen. Dann sah sie Christa mit Martha allein, Martha saß auf einem Stuhl, sie schlief, ihre Augen waren tief umrandet mit dunklen Furchen unter den Lidern......Christa schlief unruhig.....ihre Hände waren schon knöchern, ihre Haare schneeweiß, um sie herum bildeten sich Spinnenweben, wie ein Kokon, als würde Christa eingesponnen, um sich hinterher als Wesen der Dunkelheit zu entwickeln.....

Während Dina, die Seelenjägerin ihr Leben im Traum sah, zuckte sie bei den Anblicken ihrer Familie und Freunde immer wieder hoch, ihre Augen bewegten sich schnell hin und her, sie krallte sich in die Mähne des Tieres, Tränen liefen ihr an den Wangen hinunter.

 

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Donner weckte Dina aus ihrem Traum. Sie öffnete die Augen, sah hoch und richtete sich auf. Kälte durchfuhr sie, es war Nacht. Das Pferd schnaufte, seine Nüstern blähten, die Hufe schlugen beängstigend laut auf den Boden auf. Sie waren in einem Wald. Dunkle Schatten brachen sich mit dem Licht des Mondes links und rechts, wohin die Seelenjägerin auch blickte. Sie hörte Flüstern, fühlte Blicke auf sich ruhen, sah auf den Boden und erblickte kleine Nager, die vor dem Pferd flohen, um nicht zertrampelt zu werden, sah Mäuse, Käfer, Spinnen...ihr Blick war geschärft, ihr Gehör war feiner....sie gehörte jetzt dazu. Sie war ein Wesen der Nacht und erfuhr nun ihre Stärken. Sie konnte Dämonen spüren, ihren Geruch wahrnehmen und auch Wölfe, Bären oder Luchse waren vor ihrer Nase nicht sicher. Selbst wilde Tiere konnte sie wittern. Sie fragte sich, ob alle Wesen des Waldes auch sie wahrnahmen. Sie hörte ihren Namen leise geflüstert von allen Seiten und auch das Wort „Seelenjäger“ in verschiedenen Sprachen, die Dina vor kurzem erst gelernt hatte, fiel.

Sie wurde von vielen begrüßt und einige beschimpften sie auch oder warnten ihre Gefährten. Sie war jetzt eine Bedrohung für die Untoten oder auch ein Segen. Sie roch Tote und Kranke und konnte sogar schwach Schwingungen von sterbenden Untoten wahrnehmen. Einige kurze Visionen überfielen Dinas Hirn, wie sterbende Vampire, Werwesen sich auf den Boden windeten, blutend oder sich selbst verletzend, um Erlösung flehend. Sie sah andere Seelenjäger, verschwommen, wie sie ihre Arbeit verrichteten....andere....sie fragte sich, wieviele es von ihrer Art gab...

 

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Übermannt von so vielen Gefühlen, Gedanken, Eindrücken vergaß Dina für einen Moment ihre Mission. Das Pferd fiel in einen lockeren Trab. Mirka streichelte seinen Hals, hörte das vertraute Schnaufen des Tieres. Sie blickte nicht zurück. Sie sah nach vorn. Mit den Handrücken wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen, Licht blendete sie. Das Pferd fiel in einen schnellen Galopp. Dina hielt sich geduckt und sah zu Boden. Plötzlich verlor das Tier den Boden unter den Füßen! Sie schwebten. Der Wald unter ihnen wurde stecknadelkopfgroß, Dina sah noch, wie kleine Gestalten zu ihr hinaufblickten und wild mit den Armen fuchtelten. Das Pferd galoppierte, wieherte und Dina spürte kalten Wind, der ihnen entgegenkam. Sie flogen auf das Licht zu, es war so hell, daß Dina sich schützend einen Arm vors Gesicht hielt. Gleißende Regenbogenfarben umgaben die beiden Reisenden und schlossen sie ein. Sie glitten durch ein Zeitloch, was ihnen ermöglichte, schneller in der Welt zu sein, wo Dina einst hergekommen war. Die Reise dauert keine halbe Stunde, dann glitt das Pferd direkt auf alle Viere vor dem Hof der Kolts auf den Boden auf. Dina war wieder zu Hause. Als sie die Augen aufschlug, mußte sie schlucken, da sie erkannte, wo sie sich befand. Sie glitt vom Pferd, streichelte ihm über das weiche Maul, sah ihm in die Augen um sich so zu bedanken. Das Tier wieherte kurz auf, stellte sich auf die Hinterbeine und verschwand vor Dinas Augen...Dinas Hand ging automatisch zu ihrem Schwert. Sie schluckte.

Bedrohlich ragte ihr einstiges Heim vor der Seelenjägerin auf. Schwach konnte sie eine Stimme wahrnehmen. Als sie erkannte, wer da ihren Namen rief, begann sie zu laufen. Es war ihre Großmutter. Und der Geruch an ihr ließ Dina die Hand vor dem Mund halten. Martha Kolt lag im Sterben.....“Dina...beeil Dich.....ich kann sie nicht mehr schützen....es geht zu Ende....mach schnell....“ Auch ein Winseln drang an Dinas Ohren. Es war der Schäferhund Wolle, der vor der Tür Wache hielt. Als er Dina, alias Mirka erblickte, begann er die Ohren anzulegen und leise zu knurren. Für den Hund war es nicht mehr der Mensch Mirka, sondern ein Eindringling. Ein fremdes Wesen, das versuchte auf den Hof zu gelangen....Wolle, der vorher gelegen hatte, stand auf, bellte, knurrte, lief nervös hin und her....

Die Seelenjägerin Dina war zuerst verwirrt über Wolles Verhalten, doch sie roch jetzt nicht mehr nach Mensch und sah auch anders aus. Sie kam näher. Wolle knurrte, fletschte die Zähne. Dina zückte ihr Schwert und zeigte mit der Spitze auf den Hund. Wolle begann zu winseln und sah der Seelenjägerin in die Augen. Dina ließ kurz den Geruch Mirkas und die Augenfarbe Mirkas aufblitzen. Sie hatte jetzt die Macht dazu, sich zu verändern. Wolle legte den Kopf schief, wackelte mit dem Schwanz, hechelte und kam auf die Seelenjägerin zugelaufen. Dina steckte das Schwert zurück und streichelte Wolle über den Kopf. Der Geruch von Martha war nah. Eisige Kälte kam der Seelenjägerin entgegen, als sie das Haus ihrer früheren Kindheit betrat.

Wolle lief voraus, die Ohren angelegt, der Schwanz eingezogen. Feiner Nebel durchzog das Haus. Dina ging schnurstracks die Treppe hinauf. Zum Schlafzimmer von ihrer besessenen Mutter.....

 

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8. Der letzte Kampf

 

 

Vor der Tür zu Christas Zimmer saß, auf einem Stuhl zusammengesunken, eine alte Frau. Ein Buch umklammerten ihre dünnen, langen Finger. In der Mitte des Buches war ein Symbol in Form eines Halbmondes. Als Dina sich vor dieser alten Frau stellte, blitzte es kurz goldfarben auf und verblaßte wieder.

Als Dina auf die Frau zugehen wollte, um ihr das Buch zu entwenden, mußte sie zurückweichen, da eine unsichtbare Barriere sie davon abhielt. Sie sah auf den Boden. Ein weißer Kreis aus feinem Mehl lag um Mirkas Großmutter. Dina erkannte ihre Großmutter nicht mehr. Wolle legte sich winselnd, mit eingezogenem Schwanz, neben Martha, auf alle Viere.

Als die Seelenjägerin ein Stöhnen hinter sich hörte, dem ein bedrohliches Fauchen folgte, drehte sie sich sofort um, hob ihr Schwert an und stieß mit dem linken Fuß die Tür auf. Eisiger Wind fegte Dina ins Gesicht. Sie mußte sich die Hand vor Augen halten, um etwas zu erkennen. Sie ging ein paar Schritte auf das Bett zu. Der Nebel begann sich zu lichten. Die Kälte wurde allerdings unerträglich. Der Wind zog sich ebenso zurück. Dina sah eine völlig abgemagerte Frau vor sich liegen, leichenblaß, die braunen mit grau durchzogenen Haare im Gesicht verklebt, aufgesprungene Lippen, die Augen waren geschlossen, doch sie arbeiteten hinter den Lidern, bewegten sich schnell hin und her. Statt Atem war ein seltsames Krächzen und Knurren, dunkel und bedrohlich, aus der Kehle zu hören.

Dina ging langsam auf das Bett zu, stellte sich auf die linke Seite. Ihre Mutter hatte alle Viere von sich gestreckt. Ihr Körper zuckte, der Kopf ruckte hin und her. Ihr Nachthemd war zerrissen, die Stoffetzen klebten an ihrem verschwitzten Körper.

Die Seelenjägerin senkte das Schwert. Sie schloß die Augen. Sie umklammerte den Griff des Schwertes mit beiden Händen und zeigte mit der Schwertspitze auf die Brust ihrer Mutter. Schwach senkte diese sich auf und nieder. Leise begann die Seelenjägerin die Worte zu murmeln, die ihr die dunkle Mutter beigebracht hatte, um den Schattendämon zu bezwingen. Ganz automatisch, als hätte sie nie etwas anderes getan, sprach sie die Worte in der Sprache des Dämons aus: „Du hast Dich eines schwachen Körpers bemächtigt, um mich zu prüfen. Nun komm heraus, denn ich bin meinem Ruf gefolgt. Laß diesen Mensch los. Du willst mich. Denn Dir soll nicht gehören, was ich liebe!!“ Diese Worte wiederholte Dina immer wieder, wurde dabei immer lauter. Ihr Schwert lag wie Blei in den Händen, doch sie zitterte nicht, ließ den Griff nicht los. Als sie die Augen öffntete, waren auch die Augen ihrer Mutter offen.

Ihre Blicke trafen sich. Christa oder der Dämon in ihr runzelte die Stirn. Mit heiserer Stimme begann Christa zu sprechen: „Wer bist Du? Was soll das Schwert? Willst Du mich umbringen? Wo ist Mirka?“ Dina mußte kurz schlucken. Ihre eigene Mutter erkannte sie nicht mehr. Auch sie selbst wußte nicht mehr, daß die alte Dame vor der Tür ihre Großmutter gewesen war. Das war ein weiteres Opfer, was Dina zu bringen hatte, ihr fielen die Worte Lyrias wieder ein: „Du mußt Opfer bringen. Deine sterbliche Hülle und Dein Name wirst Du ablegen. Deine letzten Erinnerungen an Dein anderes Dasein schwindet mit der Erfüllung Deiner Aufgabe.“ Ein kurzer Schrei holte die Seelenjägerin wieder in die Realität zurück. Christa sprach mit der Stimme des Dämons und ihre Augen wurden zu leeren, schwarzen Höhlen: „Wenn Du mich tötest, stirbt auch dieser Körper. Laß ihn mir und geh. Ich bin nur der Anfang von vielen Prüfungen, die Du zu bestehen hast, Seelenjägerin. Sie gehört mir. Du kannst ihr nicht mehr helfen. Ich habe sie schon fast. Sie ist zu schwach, um Deine lächerlichen Anfänge, sie zu retten, zu überstehen. Laß sie mir. Geh einfach. Dreh Dich nicht um. Verlasse dieses Haus, Dein altes Leben und Deine Familie. Du bist jetzt ein Teil von mir, Kindchen. Du bist auch eine Unsterbliche, die ihre Aufgabe hat. Genau wie ich!“ Ein häßliches Lachen entfuhr dem Dämon.

Dina wurde wütend. Sie hob das Schwert an und rief in der fremden Sprache immer wieder den Befehl, Christa freizugeben. Das Tränen ihre Wangen hinunter liefen, bemerkte sie nicht. Christas Körper wurde hin und her geschüttelt. Das Bett begann zu wackeln, das Fensterglas zersprang, Wind kam auf, der Nebel verfärbte sich rot. Dinas Beschwörungen ging in ein hohes Kreischen über. Sie ging in die Knie, als der eisige Wind ihre Augen und Ohren streifte, es tat weh, körperlich weh, als wenn man ihr Peitschenhiebe zufügen würde.....

Doch Dina gab nicht auf. Immer wieder hob sie das Schwert an die Brust ihrer Mutter und kämpfte gegen die Stimme des Dämons an. Plötzlich hörte die Seelenjägerin die Stimme ihrer Großmutter in ihren Gedanken: „Stoß zu! Christa wird nicht sterben! Der Dämon wird schwächer. Er straft Dich mit Lügen, hör nicht hin! Stoß zu! Jetzt!“ Von draußen hörte Dina den Hund schwach bellen. Sie umklammerte den Griff so fest sie konnte, stand auf. Sie nahm das Schwert in senkrechte Position und stieß die Spitze in die Brust ihrer Mutter. Ein Aufbäumen des Körpers erfolgte, ein langgezogener Wutschrei entfuhr Christas Kehle und eine Fontäne grünen Blutes entwich der Wunde. Dina zog das Schwert heraus, ohne mit ihrem Beschwörungssatz aufzuhören, sie taumelte nach hinten, kam wieder auf die Beine und legte das Schwert auf die Körpermitte ihrer Mutter. Dort, wo sie zugestochen hatte, war keine Wunde mehr zu sehen. Sie sah ihre Mutter an. Ihr Gesicht war wieder fülliger, die Wangen rosiger, die Haare braun....nur der Schweiß klebte an ihrem Körper. Aus ihrem Mund drangen die Namen ihrer Mutter und ihrer Kinder, schwach. Sie sprach mit ihrer eigenen Stimme. „Martha....wo ist Mirka? Martin...paß auf Tobi, Rabea, Janus auf...“ stammelte sie.

Ein Lächeln entfuhr der Seelenjägerin. Sie nahm das Schwert an sich, steckte es in die Halterung. Sie ging auf ihre Mutter zu. Beugte sich zu ihr hinunter und küßte sie auf die Stirn. Dann drehte sie sich um, ohne zurückzublicken und ging aus dem Zimmer heraus. Als sie ihre Großmutter wach auf dem Stuhl erblickte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Martha war aufgestanden. Sie sahen sich wortlos an. Auch Martha hatte Tränen in den Augen. Sie hielt das Buch in den Händen. Mit einem Kopfnicken übergab sie es ihrer ehemaligen Enkelin wortlos. Dina nahm es an sich. Der Schutzkreis bestand nicht mehr. Wolle kratzte an Christas Schlafzimmertür. Ohne ihre Enkelin noch einmal anzusehen, ging sie zu ihrer Tochter.

Gerade, als Dina das Haus ihrer Kindheit verließ, sah sie Bruder Martin mit ihren Geschwistern auf das Haus zu laufen. Rabea hatte ganz verweinte Augen und war blaß. Ihre beiden Brüder sahen nicht anders aus. Sie alle waren in größter Sorge um Christa gewesen. Ein lautes Wiehern ließ Dina den Blick von ihrer ehemaligen Familie abwenden. Ein hübscher Junge kam auf den Hof geritten...es war Malte. Auch er hatte verweinte Augen. Als der Name „Mirka“ aus seinem Mund fiel, mußte die Seelenjägerin tief durchatmen.

Sie umklammerte das Buch, fuhr mit beiden Händen über das Symbol und wurde unsichtbar. Sie stahl sich einfach davon. Sie lief in dieser Tarnung zum Pferdestall, um sich von Rosalie zu verabschieden. Doch anstelle Rosalies fand sie das Pferd vor, was sie zurück in ihre alte Welt gebracht hatte. Sie fuhr mit dem Daumen erneut über das Symbol des Buches. Dina wurde wieder sichtbar. Sie verstaute das Buch in einer der Satteltaschen, setzte sich auf den Hengst und ritt im schnellen Galopp davon.

Jetzt lag es an Martha und Bruder Martin die Familie Kolt zu beschützen. Dina blickte nicht zurück. Als sie in den Wald kamen, öffnete sich ein Portal, was Dina in ihre jetzige Heimat zurückbrachte. Dort wurde die Seelenjägerin mit neuen Missionen vertraut gemacht. Es war nicht nur ihre Aufgabe, die Menschen vor dem Bösen zu schützen. Sie mußte sich vor allem ihren eigenen Dämonen stellen. Sie mußte ihre Familie verlassen, ihre Sterblichkeit aufgeben, um ihr Schicksal zu erfüllen.

 

****

 

 

Christa trauerte lange um ihre älteste Tochter, in dem Glauben, sie sei tot. Als es an der Zeit war, daß Martha und Bruder Martin ihr die Wahrheit sagen wollten, starb sie an gebrochenem Herzen. Mit dem letzten Herzschlag ihrer Mutter spürte auch Dina, das etwas von ihr gegangen war. Ein kurzer Schmerz in der Brust verriet der Seelenjägerin, was geschehen war.

Sie war gerade dabei, in dem Buch der Seelenjäger zu lesen. Ihr Hengst graste auf einer Wiese. Um Dina herum flogen die Elfen, die sie damals mit ihrer Großmutter im Wald angetroffen hatte. Sie führten einen kleinen Tanz auf und erhoben ihre feinen Stimmen, um Dina etwas von ihrer aufkommenden Trauer abzulenken. Die Seelenjägerin schloß die Augen, denn sie empfing wieder eine vertraute Stimme in ihren Gedanken: „Christa hat ihren Frieden. Sie liebt Dich, Kind. Sie ist Dir dankbar. Deinen Geschwistern geht es gut. Natürlich vermissen sie Dich, Malte auch. Doch sie sind tapfer. Ich werde Dir bald in der Geisterwelt erscheinen, dieser letzte Kampf war meine Aufgabe für Dich, Dina. Ich bin stolz auf Dich.“

Als die Seelenjägerin die Augen wieder öffnete, hatte sie die letzten Worte ihrer Großmutter bereits vergessen. Sie schloß das Buch, erhob sich, löste den Knoten aus ihren langen, lockigen, roten Haaren, hob beide Arme in die Höhe. Den Blick in den Sternenhimmel gerichtet, wo zwei Monde auf den Wald herab schienen, stimmte sie in den Gesang der Elfen mit ein. Sie drehte sich im Kreis und vollführte einen Tanz, barfuß, fröhlich, impulsiv. Sie begrüßte ihr neues Dasein als unsterbliche Ritterin. Noch wußte nicht, was ihr neues Leben für sie bereit hielt. Sie würde viele Abenteuer bestehen. Und hier beginnen wieder neue Geschichten über eine neue Heldin, die ihr eigenes Leben für andere opferte, die sie liebte. Sie laß bereits die Legende der Seelenjäger in dem Buch, was ihre Großmutter ihr vermacht hatte. Auch sie würde ihre Geschichte aufschreiben. Und so erfüllt sich das Schicksal einer Heldin, die für sich allein entschieden hatte, ein neues Dasein in Kauf zu nehmen, um ihre Familie zu schützen. Auch wenn diejenigen, die sie liebten, in dem Glauben waren, sie sei tot.

Dina tanzte noch lange, bis zur Erschöpfung mit den Elfen um die Wette. Erst im Morgengrauen wurde sie müde und ließ sich ins weiche, grüne Moos unter einer riesigen Tauerweide fallen, um neue Kraft zu tanken. Denn die nächste Mission, welche die Hohen Geister für sie bereit hielten, wartete schon......

 

ENDE

 

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